Suess und ehrenvoll
Schwester zurück. ›Sie war weder jung noch attraktiv‹,dachte er, als sie neben ihm stand, und auch ihr Knie lugte nicht mehr unter dem langen weißen Schwesternkleid hervor. ›Wie hatte ihn dieses Knie vor wenigen Momenten so erregen können‹, staunte Ludwig, suchte aber unwillkürlich mit dem Blick danach.
»Gefreiter Kronheim«, sprach die Schwester ihn nun an, »ich habe Anweisung, Sie über Ihren Zustand zu unterrichten. Sie wurden bei uns mit einem offenen Bruch zwischen Knie und Knöchel eingeliefert. Ein Teil des Schienbeins war zerquetscht, die Infektion fortgeschritten. Der Arzt wollte das Bein abnehmen, um Ihr Leben zu retten. Doch dann hat er seine Meinung geändert und entschieden, dass eine Amputation vielleicht doch vermeidbar ist. Wir wissen nicht, was am Ende des Heilungsprozesses in ein paar Monaten stehen wird. Wir hoffen natürlich, dass Sie Ihr Bein behalten.«
Ludwigs Herzklopfen wurde heftiger. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. ›Wenigstens habe ich überlebt‹, sagte er sich. Und das Bein war ja noch dran. Inmitten des ganzen Elends um sich herum musste er zugeben, dass er verdammtes Glück gehabt hatte.
Erst als die Schwester aufstand, traute sich Ludwig, sie zu fragen: »Wissen Sie, warum der Arzt von seiner ursprünglichen Entscheidung abgegangen ist?«
Die Schwester zögerte und sagte schließlich: »Als der Chef die Anweisung gab, das Bein zu amputieren, hat einer der Assistenten protestiert. Der Chefarzt war zunächst ärgerlich, beschloss dann aber, noch abzuwarten.«
Ludwig erinnerte sich plötzlich an das Gespräch, das er in seiner Trance mitbekommen und für einen Traum gehalten hatte. Er hätte sich gern bei diesem jungen Assistenten bedankt. Die Schwester gab aber auf seine Frage keine Antwort, denn es entstand auf einmal ein Tumult im Saal. Ein paar Reihen weiter schrie einer der Patienten plötzlich wie ein Wahnsinniger und versuchte, sich mit heftigen Bewegungen aus den Gurten zu befreien, die ihn an seinem Bett festhielten. Ludwig versuchte, den Kopf aufzurichten, um den Mann zu sehen, aber mehrere Schwestern rannten zugleich in die Richtung, aus der das Gebrüll kam, und versperrten ihm die Sicht. Plötzlich gab es einen heftigen Stoß, und er sah, dass eine der Schwestern am Fußende seines Bettes gestolpert und auf sein verletztes Bein gestürzt war. Ein gewaltiger Schmerz durchfuhr ihn, er schrie ebenfalls, und dann war er plötzlich wieder in dieser halbdunklen Welt aus dicht gepackter Watte, in der es keine Angst und keine Schmerzen gab.
Einige Tage später wurde er in ein Lazarett in der Etappe verlegt. Auch hier war es eng, auch hier stöhnten Schwerverwundete, und starben jeden Tag, oft unter entsetzlichen Qualen, Kameraden, die im selben Krankensaal mit ihm lagen. Doch hier überkam ihn eine innere Ruhe, die er seit Kriegsbeginn selbst in seinem kurzen Heimaturlaub nicht mehr empfunden hatte. Auch fern von der Front war er seine Spannung nie losgeworden; das Bewusstsein, dass ihn jeder Tag, der verging, unerbittlich wieder zurück an die Front brachte, überschattete alles. Hinzu kam die wachsende Kluft zwischen ihm, seiner Familie und seinem Bekanntenkreis, die so sehr mit ihren eigenen Sorgen wie Nahrung und Heizung beschäftigt waren, dass sie nichts von seiner Not wissen wollten. Dies alles hatte er zunehmend als Abgrund empfunden, der ihn nicht nur von seiner Vergangenheit trennte, sondern auch von seiner Zukunft, wenn er denn noch eine hatte. Allein Karoline war ihm als Zentrum seines Lebens und seiner Hoffnungen geblieben.
Dagegen empfand er seinen Aufenthalt im Lazarett als eine Art Nirwana, er erschien ihm unendlich, ohne zeitliche Begrenzung. Natürlich sorgte er sich wegen seiner Verletzung. Würde das Bein heilen? Und selbst wenn die drohende Gefahr der Amputation gebannt war, würde es so heilen, dass er ein halbwegs normales Leben führen konnte? Doch auch diese Zweifel konnte man auf die Zukunft verschieben. Was war die Sorge um ein humpelndes Bein gegen die Angst vor dem Tod, der überall lauerte? Hier war es ruhig. Kein Geschützdonner. Kein Gestank, der einen dauernd umgab, kein Hunger oder, schlimmer noch, quälender Durst. Gewiss gab es ein besseres Leben, als mit Gipsbein in einem Krankensaal zu liegen. Aber ohne Todesangst zu leben, das war ein neues Gefühl der Befreiung, das man zu schätzen wusste, wenn man den Krieg im Schützengraben erlebt hatte.
Ihm war auch keineswegs langweilig. Er las Bücher, die den Soldaten
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