Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
Vom Netzwerk:
»aber ich bin mir sicher, dass die Regierung weiß, was sie tut, und dass sie lautere Absichten hat.«
    In ihrer Erregung diskutierten die Männer in kleinen Grüppchen weiter, während Ludwig mit seinen Krücken ein wenig abseits stehen blieb, unschlüssig, was er von alldem halten sollte. Als er sich erschöpft auf einen Stuhl sinken ließ, trat ein Soldat zu ihm und stellte sich vor: »Gustav Strauss.« Er wirkte älter als seine Kameraden und trug eine andere Uniform. Er zog sich ebenfalls einen Stuhl heran und fragte: »Hast du nicht gesagt, dass du aus Frankfurt kommst? Auf welcher Schule bist du gewesen?«
    »Das stimmt. Ich war auf dem Lessing-Gymnasium.«
    »Tatsache? Da war ich auch. Ist aber schon länger her.«
    »Und was hat dich hierher verschlagen?«
    »Befehl von oben. Ich bin beim Generalstab. Deshalb trage ich auch diese komische Uniform. Ich bin Naturwissenschaftler; sie brauchen mich bei der Waffenentwicklung.«
    »Ach, du bist gar kein Frontsoldat?«
    »Ohne uns hättet ihr an der Front keine Waffen. Zumindest keine Waffen, die mit dem mithalten können, was in Frankreich und England laufend entwickelt wird. Junge Wissenschaftler im wehrpflichtigen Alter bestimmen nicht, wo sie eingesetzt werden. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Die Musterungsbehörde hat uns den Forschungseinheiten zugewiesen. Und jetzt werfen diese Antisemiten uns vor, wir würden uns vor dem Dienst an der Front drücken. Deswegen muss ich mich hier auf meine Wehrfähigkeit untersuchen lassen! Und wenn sich herausstellt, dass ich fronttauglich bin, wovon ich ausgehe, was dann? Werden sie mich an die Front schicken? Und natürlich wird das nichts daran ändern, dass ich in den Statistiken der Judenzählung als einer erscheinen werde, der sich vor dem Frontdienst drückt, daran habe ich keinen Zweifel.«
    »Jetzt übertreibst du aber!«, rief Ludwig. »Wie kannst du so etwas behaupten? Wie kannst du unseren Behörden eine solche Gemeinheit und Willkür unterstellen?«
    »Hör mal, Ludwig, ich sitze im Generalstab. Da bekommt man einiges mit. Dank meiner Tätigkeit höre ich immer wieder, wie die Männer, die hier die Politik bestimmen, in den Stabssitzungen reden. Sei doch nicht so naiv wie der Oberfeldwebel mit der Donnerstimme.« Als er sah, dass Ludwig ihm begierig zuhörte, holte Strauss weiter aus: »Wer sich im Kriegsministerium die Judenzählung ausgedacht hat, hatte bestimmt nicht vor, die Behauptungen der Antisemiten zu widerlegen. Ichwette mit dir, mein gutgläubiger Freund, dass die Ergebnisse der Judenzählung niemals veröffentlicht werden, und schon gar nicht vor Ende des Krieges. So wie du redest, nehme ich an, dass du studiert hast, nicht wahr? Dann versuch doch mal, ein bisschen weiter zu denken. Mach dir Folgendes klar: Jeder jüdische Soldat, der am Tag der Judenzählung bei seiner Einheit als ›abwesend‹ gemeldet ist – weil er Urlaub hat, krank oder zum Beispiel im Auftrag seiner Einheit hier hergeschickt worden ist –, wird automatisch als ›frontabwesend‹ registriert, ohne weitere Erklärung. Wer die nötige Fantasie und entsprechend bösartige Absichten hat, kann das so auslegen, dass es dem abwesenden jüdischen Soldaten gelungen ist, sich in die Etappe versetzen zu lassen. Auch Schwerverletzte, sogar Kriegsversehrte, werden als ›frontabwesend‹ geführt. Warum, fragst du? Weil man behauptet, dass sie sich Atteste von jüdischen Ärzten ausstellen lassen! Was man daraus folgern kann, liegt auf der Hand. Und willst du wissen, warum ich mir so sicher bin, dass die Ergebnisse der Zählung niemals veröffentlicht werden? Weil diese Statistiken keiner ernsthaften Prüfung standhalten würden. Es gibt ja immerhin noch ein paar aufrechte Politiker und auch aktive Juden in der Politik. Sie würden aufdecken, was dort gespielt wird. Deshalb ist es besser, die konkreten Ergebnisse unter Verschluss zu halten. Solange sie geheim sind, kann man die Spekulationen anheizen.«
    Ludwig war gegen seinen Willen beeindruckt, versuchte aber mit dem Rest von Zuversicht, der ihm geblieben war, seinen Standpunkt zu verteidigen, und sagte: »Jetzt wirst du mir gleich auch noch weismachen wollen, dass die vielen jüdischen Kameraden, die im Kampf gefallen sind…«
    »Du kommst der Sache schon näher«, bestätigte Strauss. »Die Gerüchte im Stab besagen tatsächlich, dass auch Gefallene als Personen gezählt werden, die ›aus welchen Gründen auch immer‹ nicht an der Front dienen.«
    »Das hieße ja«, stammelte

Weitere Kostenlose Bücher