Suess und ehrenvoll
unterbrochen, als ein Tumult auf dem Flur ausbrach. Nach einigen Minuten kam ein Militärarzt herein und fragte: »Sie sind doch auch Jude, nicht wahr?«
»Das stimmt«, erwiderte Ludwig, »das ist kein Geheimnis. Aber wer denn noch?«
»Die ganze Gruppe da draußen im Flur«, sagte der Arzt. »Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren, dass sich einige Ihrer Glaubensbrüder hier eingefunden haben.« Aus einem Grund, den er selbst nicht erklären konnte, überkam Ludwig ein unangenehmes Gefühl. Was war da los?
22
B ELGIEN
— Winter 1916 —
Sobald der Arzt das Zimmer verlassen hatte, setzte Ludwig sich auf, streckte die Hand nach den neuen Krücken aus, die er gerade erst erhalten hatte, und humpelte unsicher in Richtung des Flurs. Eine große Gruppe bewaffneter Soldaten in Uniform stand dort dicht beisammen. Was machten sie hier? Worauf warteten sie? Sie wirkten besorgt, redeten jedoch nicht miteinander. Als er sie zögernd ansprach, bekam er keine Antwort.
Ludwig wandte sich beinahe flüsternd an einen von ihnen, der etwas abseits stand, und sagte: »Ich habe gehört, ihr seid Juden. Auch ich bin Jude. Bitte erklärt mir doch, was hier vor sich geht.«
»Wie heißt du?«
»Kronheim, Ludwig Kronheim; ich bin aus Frankfurt.«
»Wir sind die erste Gruppe jüdischer Soldaten aus der 4. Armee, die von der Front abgezogen und hierher gebracht worden sind, um auf unsere Felddiensttauglichkeit untersucht zu werden. Die Ärzte werden entscheiden, ob wir würdig sind, bei der kämpfenden Truppe zu dienen«, antwortete der Soldat mit kaum verhohlener Bitterkeit.
»Von welcher Einheit seid ihr denn?«, fragte Ludwig.
»Wir kommen aus unterschiedlichen Einheiten. Überall prüfen sie jetzt auf Befehl des Kriegsministeriums, wie viele Juden wo dienen. Sie nennen das ›Judenzählung‹.«
Ludwig war sprachlos.
Sein Gesprächspartner musterte ihn: »Du hast offenbar keine Ahnung, was hier vor sich geht. Wie lange bist du schon im Krankenhaus?«
»Zwei Wochen.«
»Der Befehl ist erst ein paar Tage alt«, erklärte der andere Soldat.
»Und was soll dieser Befehl?«, unterbrach Ludwig ihn.
Nach und nach waren die anderen Soldaten dazugetreten. »Das wissen wir nicht«, sagte einer. »Ich wurde eines Morgens zur Kommandantur des Regiments gerufen. Meine Kompanie hatte die ganze Nacht Wache gehalten und Gräben ausgehoben. An diesem Morgen wurden wir abgelöst und gingen in den befestigten Unterstand, um endlich zu schlafen. Zwar durften wir die Stiefel ausziehen, aber die Montur mussten wir anbehalten. Kaum war ich eingeschlafen, hörte ich eine Donnerstimme: ›Soldat Schreiber, sofort zum Regimentskommandeur!‹
Während ich meine Stiefel schnürte, noch ganz und gar benommen vor Müdigkeit, sah ich mich um. Außer mir war niemand herausgerufen worden. Ich hatte keine Ahnung, was los war. Hatte ich etwas angestellt? Ich war mir keiner Schuld bewusst.
In der Kommandantur haben sie mich erst mal lange warten lassen, und dann führte man mich in eine abgelegene Ecke und stellte mich einem Beamten vom Kriegsministerium vor. Er hat meinen Gruß nicht einmal erwidert und mir gleich ein Formular zum Ausfüllen vorgelegt. Schon die Überschrift war sonderbar: ›Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden‹, oder so ähnlich. Oben stand mein Name, aber nicht wie sonst, Felix Schreiber, sondern ›Der jüdische Soldat Felix Schreiber‹.
Die Fragen waren dieselben, die ich schon in all den Formularen seit meiner Musterung bei uns in der Stadt beantwortet hatte. Der einzige Unterschied war der, dass es ein spezielles Formular für Juden war. Es ging nicht um deutsche , sondern um jüdische Soldaten. Kein Wunder, dass nur ich gerufen worden war. Es gab ja keinen anderen jüdischen Soldaten in der Kompanie. Als ich das Formular ausgefüllt hatte, fragte ich den Beamten, ob etwas gegen mich vorliege. Ob es irgendwelche Beschwerden gebe. ›Nein, nein‹, sagte der, ›es handelt sich nur um eine statistische Erhebung.‹ Ich wollte wissen, warum man dann mein Judesein plötzlich so hervorhebe und mich von den Kameraden absondere. Doch er sagte nur: ›Soldat Schreiber, Sie sind entlassen.‹ Das war alles. Niemand hielt es für nötig, mir etwas zu erklären.
Als meine Kameraden am nächsten Morgen zum Einsatz ausrückten und davon hörten, sahen sie mich an, als sähen sie mich zum ersten Mal. Sie sagten nichts, aber etwas in ihrem Verhältnis zu mir hatte sich buchstäblich von einem Tag auf
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