Suess und ehrenvoll
Wichtigste ist, dass Sie rasch gesund werden und an die Front zurückkehren können. Dafür müssen Sie sich erst einmal beruhigen und schlafen. Brauchen Sie noch etwas?« Er wartete Ludwigs Antwort kaum ab, machte eine Geste des Abschieds und wandte sich ab.
Ludwig schloss die Augen. War er sich seiner Sache wirklich so sicher? Glaubte er noch immer daran, dass er in seiner Heimat als Deutscher anerkannt und akzeptiert würde? Möglicherweise war an den Worten des Arztes etwas Wahres dran. Würde die ganze Vaterlandsliebe der Juden nichts nutzen? War die Assimilation womöglich ein Fehler? Würde man ihnen die deutsche Heimat am Ende gar wegnehmen? Nein, das war unvorstellbar, es konnte nicht sein, dass diese Antisemiten, die es zu allen Zeiten gegeben hatte, und eine Handvoll karrieresüchtige Beamte über die Zukunft Deutschlands entschieden! Nein, das war völlig ausgeschlossen. Ludwig stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als habe er nach langem Suchen das Licht am Ende des Tunnels erblickt.
Aber dann überkam ihn eine noch viel größere Angst. Er begann zu schwitzen. Es hämmerte in seinen Schläfen. Wie würdeKaroline auf all das reagieren? Ihre Liebe war nicht immer in ruhigen Gewässern gesegelt. Karoline und er stammten zwar beide aus gebildeten, gutbürgerlichen Familien, aber – er war eben Jude! Karolines Eltern, die Eheleute Schulzendorf, hielten sich für liberal, modern und humanistisch; sie waren überzeugte Anhänger der Gleichberechtigung der Juden und hatten nichts gegen die Freundschaft ihrer Tochter mit Friede oder einem jüdischen Kommilitonen. Doch als ihnen klar wurde, wohin die Beziehung ihrer Tochter mit dem Sohn der Familie Kronheim führte, sahen sie das Ganze plötzlich mit ganz anderen Augen. Gleiche Rechte für Juden – unbedingt. Freundschaftliche Beziehungen auch. Aber eine Ehe – das ging zu weit. Jüdische Blutsverwandte konnten sie sich nicht vorstellen.
Anfangs hatte Karoline ihren Eltern erzählt, sie werde Ludwig davon überzeugen, sich taufen zu lassen. Sie war sich zwar nicht sicher, ob ihr das gelingen würde, doch sie wollte ihre Eltern beruhigen, damit sie sich ihrer Liebe nicht in den Weg stellten. Es war nicht schwer gewesen, die Eheleute Schulzendorf davon zu überzeugen, dass der junge Herr Kronheim bereit wäre, sich für ihre wunderbare Tochter auch taufen zu lassen. Dies änderte jedoch nichts an ihrer Ablehnung. Ob Ludwig übertrat oder nicht, er würde nie ein richtiger Deutscher, geschweige denn ein Mitglied ihrer Familie werden. Und was sollte aus den Enkeln werden? Mit einem jüdischen Elternteil wären sie keine echten Schulzendorfs.
Ludwig seinerseits hatte es mit seinen Eltern auch nicht leicht gehabt. So sehr sie daran glaubten, dass die Juden nach und nach völlig im deutschen Volk aufgehen würden, versuchten sie doch, nüchtern zu bleiben. Gewiss, sagten sie, letztendlich werden wir als integraler Bestandteil des deutschen Volkes angenommen werden, und Mischehen sind kein schlechter Weg, dieses Ziel zu erreichen. Aber bis dahin müsse man in der Realität leben. Die große Liebe werde nicht immer so brennen wie im ersten Jahr. Spätestens wenn es Alltagssorgen und Spannungen zwischen ihnen gebe, und so etwas sei im Leben eines Paares nun einmal nicht zu vermeiden, werde sich ihre unterschiedliche Herkunft zu Wort melden und ihren Tribut fordern. Woher Ludwig wissen wolle, hatten sie ihn gefragt, ob Karoline etwas, das ihr vielleicht vorher als eine persönliche Schwäche erschienen sei, in Krisenzeiten nicht seiner jüdischen Herkunft zuschreiben werde? Und die armen Kinder! Als Christen in den Augen ihrer jüdischen Familie und als Juden in den Augen ihrer christlichen Familie würden sie zwischen zwei Welten leben müssen.
Ludwig hatte keine Geduld für diese altbekannte Litanei. Nur seine »gute deutsche Erziehung« hielt ihn davon ab, so zu reagieren, wie er es am liebsten getan hätte. Innerlich wies er die Argumente seiner Eltern zurück und sagte sich, wenn er zwischen seinen Eltern und Karoline wählen müsste, würde er sich ohne Zögern für seine große Liebe entscheiden.
Karoline hätte es um einiges schwerer gehabt. Dass eine junge Frau offen gegen ihre Eltern rebellierte, war in ihrer gutbürgerlichen Familie nicht denkbar. Es wäre ein Albtraum für sie gewesen; ihre ganze Erziehung und alle ihre Werte sträubten sich dagegen. Sie musste versuchen, ihre Eltern zu überzeugen. Immer wieder hatte sie ihnen erklärt, dass
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