Suess und ehrenvoll
den anderen verändert. Das habe ich deutlich gespürt. Ein paar Tage später wurde ich wieder aus der Reihe gerufen und bekam den Befehl, mich hier einzufinden.«
Der Soldat verfiel in ein tiefes Schweigen. Seine Kameraden murmelten zustimmend. So ähnlich war es ihnen offenbar allen ergangen.
»Aber dafür muss es doch eine Erklärung geben!« Ludwig war empört. »Warum seid ihr überhaupt hier, warum hat man euch aus euren Einheiten herausgezogen? Und was habt ihr in einem Krankenhaus verloren, ihr seid doch nicht krank!«
»Wir sind hier«, sagte Felix, »um uns dieser Tauglichkeitsprüfung zu unterziehen.«
»Warum denn auf einmal?«
»Darauf gibt es nur eine Antwort«, sagte ein anderer. »Wir alle hier haben etwas gemeinsam, das uns von unseren Kameraden unterscheidet. Etwas anderes kann es ja wohl nicht sein.«
»Das hab ich schon kapiert, aber was hat das mit Felddiensttauglichkeit zu tun?«
Die Soldaten schwiegen. Alle hatten zwar mittlerweile begriffen, dass ihr gemeinsamer Nenner ihr Judentum war, doch keiner verstand, weshalb sie hier waren. Die Einmischung Ludwigs, der in einer anderen Situation war und von außen dazukam, wirkte wie ein Katalysator. Seine erregten Fragen machtenihnen bewusst, dass sie zusammengehörten, und ermutigten sie schließlich, ihre Meinung offen zum Ausdruck zu bringen. Jeder fand eine andere Erklärung für die Situation. Schließlich übertönte die tiefe, donnernde Stimme eines etwas älteren Mannes die Diskussion. Dass die anderen Soldaten verstummten, lag nicht nur an seinem Alter, sondern auch an seinem militärischen Rang. Er war Oberfeldwebel.
»Ich denke, das Kriegsministerium hat diese Prüfung angeordnet, um uns in Schutz zu nehmen. Zu Anfang des Krieges haben die Antisemiten den Mund gehalten. In der allgemeinen patriotischen Begeisterung war kein Platz für die Unterscheidung zwischen Deutschen und Deutschen. Aber die Zeiten haben sich wohl geändert; wir haben das an der Front nicht so mitbekommen. Die Antisemiten scheuen sich nicht mehr, gegen uns zu hetzen, genau wie vor dem Krieg. Und was behaupten sie jetzt? Dass die Juden sich vor dem Wehrdienst drücken! Und auf jeden Fall vor dem Frontdienst!«
»Aber das geht doch gar nicht!«, rief es ihm entgegen. »In Deutschland kann sich niemand drücken; das wird doch ganz genau überwacht!«
»Außerdem haben sich viele von uns gleich zu Anfang freiwillig an die Front gemeldet, viel mehr als jede andere Gruppe im Volk.«
»Das hat die Regierung auch immer wieder anerkannt!«
»Seid doch nicht so naiv«, brummte der Oberfeldwebel. »Habt ihr vergessen, was die wichtigste antisemitische Parole ist?« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr fort: ›Komm mir bloß nicht mit Tatsachen, meine Meinung steht fest!‹ Sie finden immer irgendwelche ›Gründe‹ für ihre Verleumdungen. Jetzt behaupten sie, die jüdischen Ärzte würden den jüdischen Wehrpflichtigen falsche Atteste ausstellen, damit sie nicht an die Front müssten. Und dahinter stecke wie immer die jüdische Weltverschwörung.« Der Oberfeldwebel fuhr sich erregt über die Stirn. »Aber ich sage euch, das Kriegsministerium in Berlinversucht, uns zu helfen, indem es die Behauptungen dieser Volksverhetzer ein für alle Mal widerlegt. Es führt diese Judenzählung durch, um zu beweisen, dass gerade wir in großer Zahl dem Vaterland an der Front dienen.«
»Wenn das so ist«, fragte ein anderer Soldat, »warum machen sie es auf eine Art, die uns vor unseren Kameraden erniedrigt? Warum trennt man uns von den anderen, als wollte man gerade betonen, dass wir nicht Teil des deutschen Volkes sind und nicht dazugehören?«
»Das hat nichts zu bedeuten.« Der Oberfeldwebel ließ sich nicht beirren. »Die Zählung wird von der Militärbürokratie durchgeführt, diese Leute sind taktlos und nicht sehr helle. Sie repräsentieren aber nicht den Geist des Kaisers und der Obersten Heeresleitung. Letztlich kommt es auf das Ergebnis an. Wenn das Resultat der Zählung bekannt gegeben wird, werdet ihr sehen, dass ich recht habe. Das Kriegsministerium wird der gesamten deutschen Nation beweisen, wie patriotisch wir Juden sind!«
»Dann versteh ich aber immer noch nicht«, sagte ein anderer, »wieso wir hier sind. Warum schickt man uns zu einer medizinischen Untersuchung in ein Militärkrankenhaus in der Etappe? Was hat das mit der Judenzählung zu tun? Wir waren doch an der Front!«
»Das verstehe ich auch nicht«, gestand der Oberfeldwebel verlegen,
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