Suess und ehrenvoll
Ludwig, »dass die auch mich zumDrückeberger erklären, weil ich wegen meiner Beinverletzung nicht bei meiner Einheit sein kann, als hätte ich es auf irgendeine krumme Tour geschafft, von der Front in die Etappe verlegt zu werden!«
»Schau an, jetzt hast du’s kapiert«, sagte Strauss, »und bei dir liegt es ja auf der Hand, denn du bist in der Obhut der Ärzte, und man weiß ja, wer diese Ärzte sind!«
Ein schriller Befehl ertönte; die Gruppe stellte sich vor einer großen Tür in einer Reihe auf. Einer nach dem anderen wurde ins Untersuchungszimmer gerufen.
Ludwig humpelte zurück in sein Bett, was ihn jetzt deutlich mehr Mühe kostete als das Aufstehen vor einer halben Stunde. Diesmal tat ihm nicht nur sein operiertes Bein weh, sondern beide Beine, und er zitterte am ganzen Körper.
Seine Bettnachbarn wollten wissen, was er auf dem Flur erfahren habe, doch er antwortete nur, er fühle sich nicht gut und könne jetzt nicht reden. Dabei hoffte er, dass niemand die Tränen in seinen Augen sah.
Vermutlich bemerkten seine Bettnachbarn Ludwigs aufgewühlten Zustand tatsächlich nicht, doch einem der diensthabenden Ärzte, noch recht jung und neu in diesem Lazarett, fiel er bei der Abendvisite auf. Zunächst dachte er, Ludwig habe Fieber, doch dann begriff er, dass der Patient seine Tränen zu verbergen suchte.
»Haben Sie solche Schmerzen?«
»Nein«, antwortete Ludwig und versuchte, seine Tränen herunterzuschlucken.
Der Arzt nahm die Krankentafel, die am Fuße des Bettes hing. »Ludwig Kronheim?«, fragte er. »Woher kommen Sie?« Er stellte noch einige persönliche Fragen und sagte schließlich: »Ich glaube, ich habe Sie vorhin bei den jüdischen Soldaten auf dem Flur gesehen. Sind Sie auch Jude?« Als Ludwig bejahte, legte er ihm besorgt die Hand auf die Schulter. »Ich verstehe,was in Ihnen vorgeht. Ich heiße Heinrich Preuß, bin ebenfalls Jude. Aber glauben Sie mir, Sie nehmen sich das Ganze zu sehr zu Herzen. Was wühlt Sie so auf? Dann diskriminiert man uns eben wieder einmal. Das ist doch nichts Neues. Damit sind wir immer irgendwie zurechtgekommen, warum nicht auch jetzt? Beruhigen Sie sich, und versuchen Sie zu schlafen. Das ist der Lauf der Welt. Morgen haben Sie das vergessen.«
»Wie können Sie so reden?«, widersprach Ludwig dem Arzt flüsternd, aus Angst, die anderen im Zimmer könnten ihn hören. »Es ist einfach unglaublich, was hier gerade passiert. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Auf einmal bin ich kein Deutscher mehr.«
»Sie sind Jude«, widersprach ihm der Arzt, »deutscher Jude, aber zuerst einmal Jude.«
»Unsinn«, murmelte Ludwig, doch er hätte es dem Arzt am liebsten ins Gesicht geschrien: Seit meine Vorfahren das Frankfurter Ghetto verließen, haben sie sich als Deutsche gefühlt!
»Ja, ja«, sagte Dr.Preuß freundlich und bedeutete Ludwig, der sich erregt in seinem Bett aufgerichtet hatte, sich wieder hinzulegen. »Das sind die Geschichten, die wir uns immer erzählt haben. Aber wir haben uns etwas vorgemacht. Die Wirklichkeit sieht anders aus und wird sich nicht ändern. Wir müssen lernen umzudenken.«
»Und was meinen Sie mit umdenken?«
»Das erkläre ich Ihnen gern. Ich glaube zum Beispiel, dass Theodor Herzl recht hat. Seine Bewegung wird immer stärker.«
Ludwig starrte den Arzt an, als sei er verrückt. »Nach Palästina gehen? Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Diese Bewegung hat ein Mann ins Leben gerufen, der genau so aufgewachsen ist wie Sie. Auch er glaubte daran, dass die Juden sich völlig in die Gesellschaft anpassen müssten, in der sie leben. Aber anders als Sie hat er es sich schließlich eingestanden, dass diese Gesellschaft uns gar nicht will, egal wie sehr wir uns bemühen. Herzl war davonüberzeugt, dass es für Juden nur eine Möglichkeit gibt, in Würde zu leben: als ein Volk wie alle anderen Völker in seinem eigenen Land. Und er hat recht gehabt.«
Ludwig schüttelte ungläubig den Kopf. »Und das denken Sie wirklich? Kein Jude, der halbwegs bei Verstand ist, wird solchen Fantastereien Glauben schenken.«
»Da irren Sie sich«, sagte Preuß, »die Zionisten werden immer mehr.«
»Das mag schon sein, aber woher kommen die? Aus Russland vielleicht, aus der Wiege des Bösen, dem Reich des antisemitischen Zaren, gegen das wir kämpfen. Bestimmt nicht aus modernen, fortschrittlichen Ländern wie Deutschland.«
Dem Arzt schien das Gespräch langsam lästig zu werden. Er fiel Ludwig ins Wort: »Das
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