Suess und ehrenvoll
Anlegestellen stapelten sich Rüstungsgüter aller Art. Zu seiner Überraschung sah Louis unter den Hafenarbeitern viele asiatische Gesichter. ›Wer sind diese Leute?‹, rätselte er. ›Japaner? Japan steht in diesem Krieg auf unserer Seite. Doch bisher haben wir hier noch keine Japaner zu Gesicht bekommen. Was haben japanische Hafenarbeiter bei uns zu suchen?‹ Später sollte Louis erfahren, dassFrankreich 140
000 Chinesen ins Land geholt hatte, um die eingezogenen französischen Arbeiter zu ersetzen.
Die hohen, prunkvollen Gebäude am Quai Richelieu hatten Louis schon immer beeindruckt. Im Weitergehen kam er an dem prächtigen »Hôtel de Nantes« vorbei. Schon als Kind hatte er sich gewünscht, einmal in diesem Hotel zu übernachten, das die Reichen aus Frankreich und der übrigen Welt aufsuchten, wenn sie nach Bordeaux kamen. Noch verlockender war das Hotelrestaurant »La Belle Époque«, das seine Neugier und nicht minder seinen Appetit reizte. ›Ich bin zwar kein potenzieller Gast, und mein Aufzug ist auch nicht gerade elegant‹, dachte Louis, ›doch schließlich bin ich ein Soldat, ja ein Offizier, mit Orden auf der Brust, und da möchte ich den sehen, der mich vor die Tür setzt, wenn ich einen Blick hineinwerfe!‹
Im voll besetzten Hauptsaal des Restaurants nahmen die Gäste ihr Frühstück ein. Es duftete nach frischem Brot und Croissants, nach Kaffee und Armagnac. Louis stand staunend vor den herrlichen farbigen Fayencekacheln, die ringsum die Wände bedeckten. ›Jetzt verstehe ich, was geschäftstüchtige Kaufleute nach Bordeaux zieht‹, dachte er, ›zu einem nicht geringen Teil sind es die Produkte der Fayence-Manufaktur von Jules Vieillard. Da musste ich von der Front in meine Heimatstadt zurückkehren, um zu entdecken, was den Reichen aus aller Welt gefällt!‹ Immer wenn Louis als Kind an diesem Restaurant vorbeigegangen war, hatte er sich geschworen: ›Wenn ich groß bin, werde ich einmal dort essen! Jetzt bin ich groß‹, dachte er, ›und habe Dinge erlebt, von denen die meisten Gäste hier keine Ahnung haben. Schüchtern bin ich auch nicht mehr, und doch kann ich es mir nicht leisten, in diesem Tempel der feinen Lebensart zu speisen. Mit meinem Armeesold kann ich mir hier nicht so ein üppiges Frühstück bestellen.‹
Er ließ das Hotel hinter sich und kam nach wenigen Minuten an der Bar »Castan« mit ihrem Felsgrottendekor vorbei, einem beliebten Treffpunkt der Seeleute. Noch ein legendärer Ort, derseine kindliche Fantasie angeregt hatte. Doch wie damals ging er auch diesmal daran vorüber. Eine blasse Sonne erhellte den Himmel. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
Als Louis zu Hause ankam, war niemand da. Die Familie war wohl noch in der Bäckerei: Vater Lucien, Mutter Josianne und die Töchter Éliane, Corinne und Françoise. Die drei Schwestern waren schon lange verheiratet, Éliane hatte einen vierjährigen Sohn und Corinne eine dreijährige Tochter. Sie halfen den Eltern am frühen Morgen immer noch in der Bäckerei, während die Männer gewöhnlich Haus und Kinder hüteten, bis die Frauen zurückkamen und sie selbst zur Arbeit gingen. Mittlerweile waren ihre Männer jedoch eingezogen.
Louis schloss die Tür auf und stellte seine Sachen ab. Ohne sich umzuziehen, eilte er zur Bäckerei, die nur einige Schritte entfernt war. Bald stieg ihm der vertraute Duft in die Nase, und er verspürte einen Heißhunger auf knuspriges, warmes Brot. In der Bäckerei stand nur seine Mutter. Die Töchter waren schon fort. Éliane und Corinne, um die Frauen abzulösen, die ihre Kinder hüteten, und Françoise, um den Schwestern im Haushalt zu helfen.
Als Louis die Tür öffnete, schrillte die Türglocke. Seine Mutter, die mit der Kasse beschäftigt war, sah nicht von ihren Rechnungen auf und rief: »Guten Morgen, einen Moment bitte!« Louis gab keinen Laut von sich. Als seine Mutter keine Antwort hörte, hob sie den Kopf. Einen Augenblick starrte sie ihn wie versteinert an, dann schrie sie: »Louis!«, stürzte auf ihn zu, umarmte ihn unter Tränen und bedeckte ihn mit Küssen.
Vater Lucien war noch in der Backstube. Er hörte seine Frau aufschreien, verstand aber nicht, was sie rief. Er schrie nach vorne: »Josianne, was ist mit dir?«
»Mir geht’s gut«, rief sie. »Was heißt gut, besser denn je, du wirst schon sehen, komm her, Lucien, aber schnell!« Als der Vater im Laden ankam und Louis sah, blieb er wie erstarrt stehen, als wäre ihm ein Geist erschienen. Dann ging er auf
Weitere Kostenlose Bücher