Suess und ehrenvoll
seinen Sohnzu, packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und sah ihn mit strahlenden Augen an. Von Glück überwältigt, flüsterte er kaum hörbar: »Louis, Louis, liebster Louis…« Schließlich war es Louis, der seinen Vater in die Arme schloss. Lucien war ein großer, stämmiger Mann, doch Louis überragte ihn und musste sich etwas bücken.
»Riecht ihr nichts?«, rief Lucien plötzlich. »Alle nach hinten! Die Brote verbrennen im Ofen!«, und die drei brachen in schallendes Gelächter aus.
Den ersten Urlaubstag verbrachte Louis komplett im Bett. Wie alle seine Kameraden an der Front litt er unter chronischem Schlafmangel. Dazu kamen die tagelange Reise und die Aufregung, die dem Wiedersehen vorausgegangen waren. Doch am meisten trugen die häusliche Ruhe und Geborgenheit zu seinem erholsamen Schlaf bei. Endlich war er weit fort vom Schlachtfeld, im Schoß seiner Familie und am gemütlichsten Ort der Welt, in seinem eigenen Bett. Am Abend versammelte sich die ganze Familie zu einem Festessen. Louis, der ein heißes Bad genommen hatte und bequeme Zivilkleidung trug, freute sich über das Wiedersehen mit den Schwestern, ihren Kindern, die er kaum kannte, und Gribouille, dem betagten Hund der Familie.
Während des Essens wurde wenig über den Krieg gesprochen. Niemand wollte die heitere Stimmung trüben, und Louis war der Familie dankbar, dass sie ihn nicht mit Fragen über seine Fronterlebnisse überfiel. Die Unterhaltung drehte sich um persönliche und familiäre Themen. Auch über die neuesten Ereignisse in Bordeaux und in der heimischen Gesellschaft wurde getratscht und gelacht. Schließlich erzählten Louis’ Schwestern doch noch von den Briefen ihrer Männer an der Front, die Louis ebenso inhaltslos und vage vorkamen wie seine eigenen Briefe an die Eltern. ›Kein Wunder‹, dachte er, ›man kann Menschen, die den Krieg nie erlebt haben, kaum schildern, was ein Soldat im Schützengraben durchmacht.‹
Zur behaglichen Atmosphäre trug auch die festliche Mahlzeit bei, die seine Mutter und die Schwestern vorbereitet hatten. Kaum war Louis von der Bäckerei nach Hause gegangen, um sich schlafen zu legen, hatte seine Mutter mit ihren Töchtern das Menü geplant, das sie zu seinen Ehren auftischen wollte. Um das Festmahl möglich zu machen, war die Mutter in die Dörfer gefahren. Als Vorspeisen gab es Kaviar aus der Gironde, Austern aus Arcachon und natürlich Gänseleberpastete, als Hauptgang wurde Alsen serviert, ein Fisch, dessen zartes weißes Fleisch Louis schon als Kind gern gegessen hatte, obwohl er mit den vielen Gräten zu kämpfen hatte. Dieser Fisch war wegen der kurzen Fangzeit eine seltene Delikatesse und entsprechend teuer. Josianne hatte sich daran erinnert, dass es zu Jahresbeginn Alsen in der Bucht von Bordeaux gab, und war zum Fischerquai geeilt, wo der Fang direkt vom Boot aus verkauft wurde.
Auch die Weine, die zu den verschiedenen Gängen serviert wurden, entlockten Louis bewundernde Rufe: »Endlich wieder unser guter Wein aus Bordeaux! In der Armee bekommen wir nur Weine aus der Bourgogne, vor allem Chambertin, die auch nicht übel sind. Doch an unseren Bordeaux kommt der nicht heran! Wie ich unseren Wein vermisst habe!«
Nach der Käseplatte, die mit verschiedenen Sorten von Chèvre und Hartkäse aus den Pyrenäen bestückt war, kam das Dessert, eine Spezialität aus Bordeaux: Canelés . Beim Anblick der delikaten, karamelüberkrusteten Küchlein aus Eiern, Rum und Vanille brach die Familie in stürmischen Beifall aus. Sogar Vater Lucien klatschte in die Hände. So eine Delikatesse gab es in seiner Bäckerei nicht zu kaufen. Kaffee und Armagnac beschlossen die Mahlzeit.
Im Lauf des Abends sah Louis immer wieder zu seinem Vater hinüber. Luciens Aussehen bereitete ihm Sorgen. Er war blass und mager, sein ergrautes Haar hatte sich gelichtet. Den Scherzen und Klatschgeschichten lauschte er mit zusammengepressten Lippen, und sein Lachen klang manchmal gekünstelt. Mutter Josianne waren Louis’ Blicke nicht entgangen, und sie rief ihn unter einem Vorwand in die Küche, um ihn danach zu fragen.
»Er sieht nicht gut aus«, antwortete Louis, »irgendwie hat er sich verändert.«
»Natürlich ist er gealtert«, erwiderte seine Mutter. »Du hast ihn über ein Jahr nicht gesehen, und die Zeit bleibt nicht stehen. Außerdem arbeitet er schwer, unsere Schwiegersöhne sind eingezogen worden, und deshalb können uns deine Schwestern nicht so stark unterstützen wie früher. Unser Gehilfe in
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