Suess und ehrenvoll
von ihnen hielt sich zur selben Zeit in Bordeaux auf.
An seinem dritten Urlaubstag kehrte Louis nachmittags von einem Fahrradausflug ans Meer zurück. Im Wohnzimmer saß seine Mutter mit einer etwas jüngeren Frau über einem Aperitif. »Louis, das ist meine Freundin Gisèle Poirier«, stellte sie ihm die Dame vor.
»Endlich lerne ich deinen Sohn kennen!«, rief Madame Poirier und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
Sie musterte ihn mit kaum verhohlener Neugier, und seine Mutter sagte: »Setz dich doch zu uns! Gisèle möchte zu gern hören, was du alles erlebt hast.«
Aber Louis hatte nicht die geringste Lust, seine Erlebnisse zu erzählen, und schon gar nicht dieser fremden Frau. Er murmelte eine Entschuldigung und verzog sich in sein Zimmer. Währender ein Buch aufschlug, hörte er das Stimmengemurmel im Wohnzimmer, ohne die Worte zu verstehen. Nur ein Satz drang noch an sein Ohr, bevor er die Tür schloss: »Ach, Josianne, was hast du für einen prächtigen, männlichen Sohn!«
Abends erzählte die Mutter ihm von Gisèle: »Sie ist eine wunderbare Frau, doch sie fühlt sich sehr einsam, weil ihr Mann als Berufssoldat trotz seines Alters noch an die Front geschickt worden ist. Ihr ganzes Leben kreist um diesen Mann, sie liebt und bewundert ihn von ganzem Herzen. Wir haben uns vor einem Jahr kennengelernt, und als Gisèle hörte, dass ich Jüdin bin, hat sie sich mir angeschlossen und mich gebeten, ihr das Judentum nahezubringen. Sie sagte, sie schätze das Judentum sehr, wisse aber sehr wenig darüber.«
Die Mutter hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Ich bin mit ihr in die Große Synagoge gegangen und habe sie zusammen mit dem jungen Rabbiner René Petit, der die rechte Hand unseres Oberrabbiners ist, zu uns eingeladen. Seitdem sind wir befreundet.«
Louis hatte höflich zugehört, obwohl Madame Poirier ihn nicht im Geringsten interessierte. »Wie schön, dass du eine gute Freundin hast«, sagte er mit einem Lächeln und wechselte das Thema.
Am nächsten Morgen klopfte es an der Haustür. Louis öffnete, da seine Eltern noch in der Bäckerei waren. Vor ihm stand Madame Poirier.
»Guten Morgen, Louis«, sagte sie, »ist Ihre Mutter zu Hause?«
»Nein, Madame, um diese Zeit ist sie noch im Geschäft.«
»Würde es Sie stören, wenn ich hier auf sie warte?«
»Nein, durchaus nicht«, sagte Louis, führte sie ins Wohnzimmer und bot ihr einen Kaffee und Gebäck an.
Als er sich wieder in sein Zimmer zurückziehen wollte, rief Madame Poirier hinter ihm her: »Louis, wollen Sie der Freundin Ihrer Mutter nicht Gesellschaft leisten?«
Widerwillig machte Louis kehrt. Sicher würde sie ihm Fragen über den Krieg stellen oder, schlimmer noch, ihre eigenen Ansichten zu diesem Thema ausbreiten. Doch Madame Poirier hatte andere Absichten. Sie begann, von sich selbst zu erzählen.
Ihr Mann und sie stammten beide aus Bordeaux, hatten aber lange Jahre in den französischen Besitzungen in Asien und Afrika und auch in Französisch-Guyana zugebracht. Sie erzählte belanglose Geschichten aus dem Leben von Berufsoffizieren und ihren Familien in den Kolonien, aus ihrem Alltag und dem Gesellschaftsleben und schilderte die Vergnügungen und Feste, die sie als junge Frau eines wesentlich älteren Subalternoffiziers erlebt hatte, wobei sie immer weiter in pikante Details abglitt.
Sie beschrieb ausführlich ihre kurzen Kleider, die begehrlichen Blicke, die sich auf ihre Beine gerichtet hätten, die tiefen Ausschnitte, die Einblick in ihr Dekolleté gewährt hätten, und den dünnen Stoff ihrer Blusen, durch die man die rosigen Spitzen ihrer Brüste habe erahnen können. Dabei taxierte sie Louis mit scharfem Blick, um die Wirkung dieser Details zu prüfen, während der junge Mann schluckte und verlegen seine Fußspitzen ansah. Was sollte er von diesem Gespräch oder besser von diesem seltsamen Monolog halten? Vor ihm saß die Freundin seiner Mutter! Doch Madame Poiriers Geschichten wurden immer frivoler, und sie unterbrach sich nur hin und wieder, um ihn mit einem beschwörenden Blick in die Augen zu fragen: »Und Sie? Was halten Sie davon? Was hätten Sie in dieser Situation getan?«
Ohne die Antwort abzuwarten, redete sie weiter und beobachtete wie ein Raubvogel, der sein Opfer fixiert, die steigende Erregung des jungen Mannes. Er dachte offensichtlich nicht mehr daran, sich in sein Zimmer zurückzuziehen.
Mit einem Mal stand seine Mutter in der Tür und rief: »Ah,
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