Suess und ehrenvoll
der Backstube ist auch bei der Armee, und Vater arbeitet meistens allein. Manchmal findet sich jemand, der ihm für kurze Zeit hilft, aber das nützt nicht viel.«
»Gewiss, aber das gilt auch für dich. Du bist ebenfalls ein Jahr älter geworden und musst schwerer arbeiten, und auch du hast kaum Unterstützung. Aber du hast dich nicht verändert. Nun, hoffen wir, dass er weiterhin durchhält – pourvu que ça dure. «
Am Tag darauf fand im Hause Naquet ein zweites Abendessen in größerem Kreis statt. Diesmal stand der Krieg im Mittelpunkt der Gespräche. Die Fragen, die man Louis stellte, betrafen allerdings kaum das Alltagsleben im Schützengraben oder seine eigenen Gefühle und Erlebnisse. Die braven Bürger, mit denen seine Eltern befreundet waren, hatten nie einen Krieg erlebt. Sie wollten von Louis hören, wie der Krieg geführt wurde, als wäre Louis ein Beobachter im Hauptquartier der französischen Armee.
Abgesehen davon, dass der gegenwärtige Krieg natürlich auch von ihnen Opfer und Verluste forderte, betrachteten sie ihn als eine Art Spektakel, als monumentalen Zweikampf, aus dem Frankreich letzten Endes als Sieger hervorgehen würde. Sie erklärten Louis ihre grandiosen Theorien über den Krieg und die beste Strategie, ihn zu gewinnen. Louis verstand kaum, wovon sie redeten. Im Alltag des Schützengrabens war es schwierig, sich den Krieg als »Weltkrieg« vorzustellen.
Er wusste wenig über die Schlachten in Osteuropa, von der türkischen Front ganz zu schweigen. Auch vom U-Boot-Krieg hatte er nur gerüchteweise gehört, von den Kämpfen um die deutschen Besitzungen in Afrika und im Fernen Osten so gut wie gar nichts. Selbst die Lage an der Front, an der er kämpfte, war ihm nicht klar. Er und seine Kameraden hatten keinen Überblick über das Geschehen, waren vollauf mit ihren Problemen beschäftigt und schnappten nur hie und da Gerüchte und Geschichten auf, die wie eine Mischung aus Propaganda und Fantasie klangen.
Doch im Hause Naquet waren an diesem Tag lauter strategische Experten versammelt, und sie bombardierten Louis mit dramatischen Prophezeiungen und scharfsinnigen Analysen eines weltumspannenden Krieges! Fast noch peinlicher waren Louis ihre Lobreden auf die heldenhaften französischen Soldaten, auf die man sich blind verlassen könne. Lichtjahre trennten dieses hochtrabende Geschwätz von dem, was er tatsächlich erlebt hatte. Es bedrückte ihn sehr und warf einen dunklen Schatten auf seine Urlaubsstimmung.
Allmählich wurde die Atmosphäre gelöster, und man wandte sich »heiteren Aspekten des Krieges« zu. Doch die Witze und Anekdoten ärgerten Louis noch mehr als die strategischen Belehrungen. »Wollt ihr eine Geschichte von der Front hören?«, fragte einer der Gäste und fuhr fort, ohne die Antwort abzuwarten: »Unsere tapferen Soldaten sitzen im Schützengraben und überlegen, wie man möglichst viele Boches erledigen kann. Einer sagt: ›Ich hab eine Idee. Ihr kennt doch den deutschen Gehorsam. Die meisten Deutschen heißen Hans, und damit locken wir sie aus dem Bau. Einer von uns legt das Gewehr an, der zweite ruft im Befehlston: Hans! Ein Deutscher steht auf, steht stramm und schreit: Jawohl! In dem Moment pustet ihn unser Soldat weg.‹ Der Trick wird ausprobiert und klappt jedes Mal. In den deutschen Stellungen ist man ratlos. Was tun? Dann sagt ein deutscher Soldat: ›Ich hab eine Idee. Die meisten Franzosenheißen Schan-Schak [Jean-Jacques]. Wir spielen ihnen den gleichen Streich, den sie uns gespielt haben.‹ Gesagt, getan. Ein Deutscher ruft zu unseren Jungs herüber: ›Schan-Schak!‹ Von unserer Seite kommt die Gegenfrage: ›Bist du Hans?‹ – ›Jawohl‹, ruft der Deutsche und nimmt Haltung an. Und schon macht es bumm!« Während alle in beifälliges Gelächter ausbrachen, wäre Louis am liebsten im Boden versunken. Er stand auf, schützte Müdigkeit vor und sagte, er werde sich zurückziehen. Aber bevor die Gäste ihn gehen ließen, klopften sie ihm noch lange auf die Schulter und überhäuften ihn mit Elogen, wie sie einem französischen Helden gebührten.
Das war seine erste und letzte Unterhaltung mit den braven Bürgern von Bordeaux. Die folgenden Tage verbrachte er größtenteils zu Hause in Gesprächen mit seiner Familie. Er ging auch allein in der Stadt spazieren, und wenn er hin und wieder mit Unbekannten sprach, dann meist mit Soldaten, die wie er auf Heimaturlaub waren. Seine Schulkameraden und Bekannten waren allerdings an der Front, und keiner
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