Suess und ehrenvoll
Gisèle! Schön, dass du mich besuchst! Es tut mir leid, dass du auf mich warten musstest!«
»Ach«, wehrte Madame Poirier ab, »das war doch meine Schuld, ich hätte mir denken können, dass du noch bei der Arbeit bist. Wo hatte ich nur meinen Kopf, als ich hier unangemeldet hereingeplatzt bin …? Aber dein Sohn hat mir freundlicherweise Gesellschaft geleistet.«
»Wie nett von dir, Louis! Danke, mein Lieber!«
Louis empfahl sich, froh, einer Antwort enthoben zu sein. Bevor er seine Zimmertür schloss, hörte er Madame Poirier zu seiner Mutter sagen: »Wie reizend dein Sohn ist! Welcher junge Mann seines Alters ist bereit, sich die Geschichten einer alten Schwatzbase anzuhören…«
Am Tag darauf erschien Madame Poirier noch früher. Da sie jetzt wusste, wann ihre Freundin von der Arbeit zurückkehrte, hatte sie sich ausgerechnet, wie viel Zeit sie mit Louis verbringen konnte, bevor seine Mutter nach Hause kam. Louis wusste nicht ein noch aus. Einerseits zogen ihn Madame Poiriers Geschichten in Bann, andererseits sagte er sich: ›Das kann doch nicht sein! Wer ist diese Frau? Warum ist meine Mutter mit ihr befreundet, sie kennen sich doch kaum?‹ Trotzdem saß er wie verhext der ungebetenen Besucherin gegenüber und lauschte ihren Erzählungen, die einen eindeutig sexuellen Charakter annahmen. Er wusste nicht, ob sie die geschilderten Abenteuer tatsächlich selbst erlebt hatte oder ob sie ihren erotischen Fantasien entsprungen waren. Dabei rückte Madame Poirier immer näher an Louis heran, bis er ihren Atem spüren konnte. Sie beobachtete ihn unablässig, sodass Louis befürchtete, sie würde die Schwellung in seiner Hose entdecken.
Seltsame, aufreizende Augen hatte sie, von einem Violett, wie er es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. ›Wie ein wildes Tier‹, dachte er. Vielleicht faszinierten ihn diese Augen nur, weil sie ihm betörende Blicke zuwarf? Sie war keine besonders schöne, vielleicht ein wenig zu füllige Frau. Aber ihre Lippen waren voll und sinnlich und ihre üppig beringten Finger zart und gepflegt.
Als Louis seiner Erregung kaum noch Herr wurde, stand Madame Poirier plötzlich auf und sagte: »Mein lieber Monsieur Naquet, ich kann nicht länger auf Ihre Mutter warten. Es ist schon spät, und ich habe viel zu tun. Danke für den Kaffee und vor allem für Ihre Geduld. Auf Wiedersehen.« Louis begleitete sie mit gemischten Gefühlen hinaus. Er fühlte sich erleichtert, bedauerte aber gleichzeitig, dass dieses verwirrende Rendezvous zu Ende war.
Noch in der Tür sagte sie plötzlich: »Ich würde mich gern für Ihre Gastfreundschaft revanchieren. Hätten Sie Lust, sich Fotografien aus meinem Leben anzusehen? Ich habe eine interessante Sammlung.«
Louis, durch ihre wechselhaften Launen verwirrt, stammelte nur: »Ja … Ja natürlich … Ich komme gern.«
»Also gut«, sagte Madame Poirier und holte einen Zettel hervor, auf den sie vorsorglich ihre Adresse geschrieben hatte. »Ich erwarte Sie morgen um vier.« Und ging, ohne seine Antwort abzuwarten.
Als seine Mutter nach Hause kam, erwähnte Louis den Besuch ihrer Freundin nicht. Die leeren Kaffeetassen und das Gebäck hatte er weggeräumt.
Am Tag darauf machte er sich auf den Weg zu Madame Poirier. Sein Magen flatterte wie vor einem großen Abenteuer, und er schwankte zwischen Bangen und Hoffen. Madame Poirier erwartete ihn mit einem Fotoalbum in der Hand. Auf ihren Wink setzte er sich ihr gegenüber an ein Tischchen, auf dem eine Flasche Armagnac und zwei kleine Gläser standen.
Die Fotografien waren enttäuschend, banale Aufnahmen von Menschen, die Louis nicht kannte. Doch Madame Poirier machte aus jedem Foto eine Geschichte. Um wen es dabei ging, war Louis gleichgültig, er interessierte sich nur für die erotischen Details. Wie hypnotisiert lauschte er den schlüpfrigen Beschreibungen der intimen Erlebnisse, die sie den in den Fotosverewigten Personen zuschrieb. Er starrte auf ihre Finger mit den leuchtend rot lackierten Nägeln.
Sie trug an jedem Finger vier große, auffallend schöne Ringe und bewegte unaufhörlich die Hände, während sie ihm die Bilder erklärte. Seine Blicke wanderten hin und her, von ihren violetten Augen zu den wedelnden Händen und wieder zurück. Zum ersten Mal begriff er, dass Schmuck für Männer etwas Anziehendes, ja sogar eine starke erotische Ausstrahlung haben kann. Immer wieder zog ihn der Anblick der Ringe an ihren manikürten Fingern magisch an.
Während ihr Redefluss weiterplätscherte,
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