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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Schreiber
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Nette.
    »Und eine Versicherung?«
    Sie schüttelte den Kopf. Geld für eine Hagelversicherung hatte sie schon lange nicht mehr.
    Und dann, ausgerechnet in diesem schlimmen Moment, geschah das Beste. Nette sagte: »Gut, dass ich dich hab.«
    Annie strahlte: »Mir macht der Hagel nichts.«
    Ihre Mutter streichelte ihr über das dicke Haar: »Gott sei Dank.«
    Niemand verstand, weshalb Nette ausgerechnet nach Pleitezeiten besonders dringende Lust auf Männer hatte – vielleicht ging bei ihr die Liebe nur im Kummer gut.
In einer Dürreperiode hatte sie es mit einem Musiker versucht, der Pfarrer kam im Dauerregen dran, und nach diesem Hagel ging sie mit dem Metzger. So waren sie wenigstens mit guter Wurst durch
das Jahr gekommen; Theologie und Musik hatten nichts dergleichen zu bieten gehabt, nur Hirngespinste.
    Jahr um Jahr hoffte Annies Mutter, Profit zu machen. Ausgerechnet jetzt, wo eine gute Ernte hätte glücken können, war sie fortgegangen. Diesmal hatte kein Frost die Blüte
gestört, der Junifall war normal verlaufen. Die Bäume lassen dabei die faulen oder überzähligen Früchte los, die sie nicht ernähren können. Annie fand, dass
solche Obstbäume klüger waren als die Menschen. Es gab im Ort eine Familie mit neun Kindern, die hätten auch ein paar fallen lassen sollen, damit wenigstens drei oder vier gut
versorgt waren, fand sie. Doch diese Leute hielten ihren Nachwuchs, als hätten sie eine Plantage dafür angelegt, sie kriegten schon wieder was Kleines, und besser noch: Kein Hagelschlag
konnte ihnen das Kindergeld vermasseln.
    Das Wetter, der Geologe und die fliegenden Dosen reichten nicht als Erklärung, weshalb Nette in diesem Sommer ihre Nerven verlor. Es fing viel früher an.
    Jahre zuvor, als Nette noch ein Kind war, hatte die Familie einen Holzbock im Dachstuhl gehabt, fast wäre alles eingestürzt, Opa musste aufwendig renovieren und war danach für
Jahre knapp bei Kasse. Die beiden jammerten bis heute über diese Zeit, als wäre damals Krieg gewesen, dabei hatten sie bloß ein kaputtes Dach.
    Zu allem Überfluss wollte die kleine Nette unbedingt ein Bonanza-Rad mit Bananensattel und viel Chrom. Noch heute setzte sie sich gelegentlich auf Annies Bettrand und zeigte ihr ein Album,
in das sie Fahrradprospekte von damals hineingeklebt hatte. Eigentlich wollte sie bloß eine gute Nacht wünschen, was Annie gar nicht leiden konnte, diese Störungen kurz vorm
Schlafen, doch immer wieder kam Nette an solchen Abenden ins Schwärmen, ihr Traumrad hätte eine Batteriehupe gehabt und Speichenklicker und Zierspiralen aus Plastik, die sich um die
Bowdenzüge der Bremsen schlängelten. Dazu hatte sie sich farbige Gummibänder gewünscht, die an den Lenkergriffen im Fahrtwind geflattert hätten. Ihre Lippen zitterten, wenn
sie bloß das Wort Drei-Gang-Nabenschaltung aussprach. Annie sah sich gezwungen, sie zu trösten, dass man nicht alles haben kann im Leben, und schlief
schlecht davon.
    »Und hab ich dir schon erzählt«, wiederholte Nette nahezu jede Woche, »dass ich als Baby im Kinderwagen mal gebrüllt habe vor Hunger, und dein Großvater hat
mich allein gelassen, für Stunden bestimmt, und nicht gefüttert?«
    Opa saß ebenso ungeniert auf Annies Bettrand und rechtfertigte sich seiner Enkelin gegenüber in allen Einzelheiten, solch eine ganz spezielle Bonanza-Gangschaltung liege wie ein
Knüppel zwischen den Oberschenkeln der Fahrerin. Selbst wenn er damals keinen Holzbock im Dach gehabt hätte, solch eine Pornoschaltung hätte er Nette-Marie nie erlaubt, und
saumäßig teuer sei das Ding auch noch gewesen. Vom Kinderwagen erwähnte er nichts.
    Annie profitierte von dem ganzen Gejammer um das Bonanza-Rad, wenn im Fach Deutsch der Konjunktiv gefragt war. Weder Opa noch Nette hatten bemerkt, dass sie bis heute weder ein Bonanza- noch
überhaupt irgendein Fahrrad besaß. Sie kam gar nicht dazu, etwas zu fordern oder gar zu streiten, weil die beiden Erwachsenen das Tag für Tag kindisch selbst erledigten.

OPA
    D er Alte quälte sich mit der Frage, ob das schon alles gewesen war in seinem Leben: einige Tausend Tonnen Obst und sonst im Grunde nichts
weiter. Er grübelte, wann und vor allem wie er sterben würde, wie das jeder Mensch tut, wenn mehr und mehr Altersflecken seinen Handrücken bedecken. Zu allem Überfluss bekam er
einen hässlichen Hautausschlag dazu, den er mit vielen Kilo getrockneten Kamillenblüten behandelte. Als sein Äußeres wieder hergerichtet war, wurde ihm

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