Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
aussichtslos, der Arzt wird es fotografiert haben, vermutete sie. Die Bohne konnte bloß ein Gerücht sein, das kursierte. Auch solche Ungereimtheiten notierte sie akribisch.
Das Problem dieses Vetters war jedenfalls angeblich, dass er die Bohne nicht mehr herausbekam. Sie entfaltete sich in seiner Wärme und Feuchtigkeit wie im Erdboden und keimte. Er musste
große Schmerzen gehabt haben, ging aber vor Scham nicht zum Arzt. In nur vier Tagen rankte die Bohne nach draußen, er schleppte sich endlich doch ins Krankenhaus, wurde operiert, und
nun fehlte ein Teil seiner Spitze.
Ihre Studien notierte Annie in ihrem Herbarium, das sie sich zu Zeiten angelegt hatte, als sie noch getrocknete Schafgarbe oder Kamillenblüten gesammelt hatte. Rechts blieben die
Kräuter, links kamen ihre neuen Fundstücke hinein. Den Bäcker samt Allergie platzierte sie neben einem Wiesenschaumkraut. Auch ihr Bericht über den Kirschensex von Opa und
Ninotschka war Teil ihrer Sammlung geworden, dieses Vorkommnis stand neben den Kirschblüten.
Sie hatte sich vorgestellt, dass Sex etwas war, das nach dem Küssen und Streicheln kommt und sich ganz gut anfühlt. Aber die Erwachsenen taten zur Erregung eher seltsame Dinge. Ein
Fremder war kürzlich in die Schule eingedrungen und hatte den Jungen in der Umkleidekabine die Unterhosen gestohlen. Was, fragte sich Annie, wollte der Mann mit gebrauchten Unterhosen? Sie
waschen? Von ihrem Chemielehrer erzählten die Leute, dass er statt zu schmusen lieber nackig den Fußboden putzte. Sie hatte beide Fälle im Buch mit Fragezeichen versehen, manche
Fragen blieben für Forscher lange ungelöst, da musste man Geduld mitbringen, bis sich eine Antwort fand.
Ihre Biologielehrerin erzählte im Unterricht, Geschlechtsverkehr fände statt, wenn die Mama und der Papa sich lieb haben. Von welchem Papa sprach diese Lehrerin bei ihrer kindischen
Aufklärung? Viele Schüler hatten keinen Papa, und trotzdem kamen immer mehr Kinder dazu. Annie war sich sicher, dass man von Unterhosen, Bohnen, Kirschsaft und Hausarbeit garantiert nicht
schwanger wird. Sex war kein Ereignis, bei dem eine Biene sich einer Blume nähert. Fritzi kannte Videos online, bei denen die Biolehrerin vom Stuhl gekippt wäre, das Bienchen waren da
drei Männer und die Blume ein armes geschundenes Schaf.
Das frische Gebäck in einer Papiertüte, schlenderte Annie gemütlich durch die Felder. Sie ging weiter als sonst, marschierte Kilometer bis zum Waldrand. Die
dunklen Nadelbäume hatten ihr immer Angst eingeflößt, vielleicht weil die heimischen Märchen besonders grausam waren. Opa hatte ihr erzählt, dass die Jäger wild um
sich ballerten und häufiger Haushunde, Katzen und Kinder trafen, als Wildschweine schossen. Außerdem blieb der Waldboden selbst im Sommer gelegentlich sumpfig, vor allem aber fehlte hier
zwischen den Bäumen der weite Blick, den ihr die harmlosen Felder boten. In der ordentlich aufgereihten Plantage sah man das Böse von Weitem kommen und hatte genügend Zeit zu
fliehen, im Wald aber konnte jemand hinter den dicken Stämmen oder im Dickicht lauern. Annie blieb darum in gehörigem Abstand vor den Tannen stehen, lugte ins Unterholz und schnupperte
die würzige und kühle Luft. Das Sonnenlicht blinzelte hier statt zu brennen. Dennoch kam ihr der Wald gar nicht mehr so unheimlich vor, wie sie ihn als Kind empfunden hatte.
In dem fast reifen Weizenfeld dann, wenige Meter weiter, rekelte sie sich, streckte genüsslich ihre Arme und Beine aus. Die Erde war von der Sonne aufgeheizt, wärmte ihren Rücken,
die Ähren um sie herum wiegten hin und her. Die Wiese daneben hatte man Tage zuvor gemäht, das Gras war aufgehäuft und duftete schon nach Heu. Hier aß sie ihren Kuchen, einen
ganzen herrlichen Mohnstriezel. Schöner konnte das Leben nicht sein.
Annie würde hier nicht liegen, wenn es kein Weizen wäre, dieses Getreide war weich. Nie legte sie sich auf Gerstenstroh, weil die Ähren lange harte Haare hatten, die durch die
Kleidung drangen und die Haut übel pikten. Roggen kratzte dagegen nur etwas. Grundsätzlich musste man sich vorher im Klaren darüber sein, wohin man sich legte. Annie taten alle Leute
leid, die sich falsch betteten und es im Leben unbequemer hatten als nötig.
ERNTEHELFER
F ünfzehnhundert Bäume abzuernten war für Annie kein Problem, sie benötigte dafür bloß eine Schüttelmaschine:
Zuerst schob man damit eine riesige Kunststoffplane oder ein Leinentuch unter jeden einzelnen
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