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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Schreiber
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mit Mathematik, um Ende August die Nachprüfung zu schaffen. Er klappte sein Heft auf und fragte seinen Vater laut lesend:
»In einem Käfig befindet sich eine bestimmte Anzahl Fasane sowie Kaninchen. Zusammen haben sie 96 Füße und 35 Köpfe. Wie viele Tiere sind von jeder Art im Käfig
vorhanden?«
    Uli leckte seine Zigarette an, klebte sie zu und schaute in die Luft. Als dem Jungen nichts einfiel, half Annie etwas nach: »Also, Kaninchen haben vier Füße und Fasane zwei,
oder?« Der Junge schaute noch einmal in sein Buch, anschließend wieder zu seinem Vater. Uli wischte mit seinem Handrücken die Tabakkrümel vom Tisch, steckte sich die Zigarette
an und nahm den ersten stechenden Zug. Er kniff seine Augen zusammen und hustete. Annie ahnte, dass er bloß rauchte, statt im Kopf mitzurechnen.
    Wenn sie dem Kind half, vielleicht half Uli dann ihr: »Gleichsetzungsverfahren.«
    Der Familienvater stand auf, die Kippe im Mundwinkel, und nahm eine Klorolle aus dem Küchenschrank. In der Tür stehend, drehte er sich zu den beiden um, ihm lag offensichtlich etwas
auf den Lippen, er dachte wohl kurz nach, beließ es aber bei einem Seufzen und verschwand. Annie rechnete nun mit dem Jungen: »2x + 4y = 96 und x + y = 35 => x = 35 – y,
das bedeutet: 2·(35 – y) + 4 y = 96. Hier setzt du für x die zweite umgestellte Formel ein, das ist zu Ende ausgerechnet y = 13. 13 x 4 = 52 und 22 x 2 = 44, also 96
Füße. Addiere x und y, daraus wird 13 + 22 = 35, also lautet das Ergebnis der Probe: 35 Köpfe.«
    Der Junge sah sie verständnislos an.
    »Schau doch, unter die Rechnung brauchst du jetzt nur noch schreiben, wie viele Kaninchen und wie viele Fasane es sind. Also, wie viele?«, fragte sie.
    Er schüttelte den Kopf: »Ja, woher soll ich das wissen?«
    Der Fernseher hatte ihn abgelenkt, eine Prostituierte wollte dort einen Kindergarten gründen, und ein benachbarter Imbiss klagte dagegen. Die Leute kauften sich auf Kredit, wozu sie eben
Lust hatten, bis ein netter Mann kam und das Problem mit der Bank löste. Bei denen im Fernsehen wurde der Müll von einer Reporterin beiseitegeräumt und als Überraschung noch das
ganze Haus tapeziert, alles umsonst, es kostete bloß ein paar Tränen vor der Kamera. Der Junge sah lieber fern, als zu rechnen, das strengte nicht an.
    Uli kam nicht mehr von der Schüssel herunter, Annie ahnte, dass sie hier nichts erreichen würde, sie stand auf und ging.
    Spätabends versuchte sie es ein zweites Mal bei Lastwagen-Uli, seine Frau hatte bereits das Geschirr gespült, es hatte Schnitzel mit Kartoffelsalat zum Abendessen
gegeben, sie gab Annie fürsorglich von den Resten ab, es schmeckte kalt, fettig und gut. Der Fernseher lief, die Frau drehte nun kurz den Ton ab, spielte ihrer Familie auf der Mundharmonika Kein schöner Land vor und ging anschließend ins Bett, nicht ohne ihrem Sohn und Mann eine gute Nacht zu wünschen. Es war das traurigste Lied, das
Annie je vernommen hatte, und mit so wenig Luft gepustet, dass es fast gar nicht zu hören war.
    »Wie wäre es mit Arbeit, Uli?«, versuchte sie es erneut.
    Uli drehte den Fernseher wieder auf.
    »Ich muss Kirschen ernten und weiß nicht, wie ich das allein schaffen soll. Du wirst gut verdienen, das verspreche ich dir, und deine Freunde auch, wenn du welche hast. Aber ich kann
erst bezahlen, wenn ich die Früchte verkauft habe.«
    Er sagte nichts, ja, er benahm sich, als sei sie gar nicht im Zimmer. Gähnend drückte er die letzte Kippe in einem randvollen Aschenbecher aus, mühte sich stöhnend an der
Stuhllehne hoch und teilte irgendwem mit, wahrscheinlich sich selbst, bevor er ins Schlafzimmer schlurfte: »Das war mal wieder ein Scheißtag.«
    Da saß Annie nun in einer fremden Wohnung voller Schnitzelgeruch, Mayonnaise und Asche. Wie lange würde Ulis Frau hier noch kochen? So elend verheiratet wollte sie selbst niemals
leben. Wenn sie mal jemanden hätte, wie wäre er zu Beginn, und wie würde er sein, Jahre danach? Wieso hingen die Paare aneinander, auch wenn sie sich zuwider wurden? Vielleicht war
ihre Mutter deshalb ein Windbefruchter, weil sie keinen solchen müden Uli bei sich wollte. Annie begriff jeden Tag besser, weshalb Nette eine Erholung brauchte. Dieses erste wohlwollende
Verständnis ihrer Mutter gegenüber weckte in ihr eine solche Sehnsucht, dass sie es kaum ertrug. So stand sie erschöpft auf und verließ diesen traurigen Familienort.

HALT UND HALTLOSIGKEIT
    A nnie schlenderte ohne Ziel durch das

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