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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Schreiber
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erschrocken, nun ein gieriges Schnappen, und endlich krähte es schlaff wie ein junger Hahn. Ein zweiter, ein dritter Atemzug, seine Lungen füllten sich mit Luft,
dann schrie es auf Teufel komm raus – Annie lachte, bis ihr die Tränen kamen.
    Ihr Leben lang wird sie nicht mehr vergessen können, was sie getan hat: den Menschen erkennen, anfassen und klopfen, bis dessen Leib sich regt. Sie wird das jeden Tag wieder und wieder
durchmachen und sich grauen müssen bei der Vorstellung, was gewesen wäre, wenn der kleine Mensch nicht nach Luft geschnappt hätte, wenn er in ihren Händen verreckt
wäre.
    Sie hätte sich nicht umgebracht deswegen, aber doch so beunruhigt leben müssen bei dem Gedanken, das Falsche getan zu haben oder das Richtige nicht, dass sie von einer Krankheit in die
nächste gefallen wäre, wie zur Strafe. Sie war einem fürchterlichen Unheil entkommen, verflixt noch mal, und der Kleine auch und Paula dazu.
    »Hey, schau her, es lebt!«, rief sie der jungen Mutter mit bebender Stimme zu.
    Annie hielt das Neugeborene hoch, aber Paula drehte den Kopf weg. Sie atmete erschöpft, war fertig mit der Welt. Das Kind war ganz still, atmete mit. Das haben die beiden also schon mal
gemeinsam, dachte Annie. Das Kleine war am ganzen Körper schmierig, blutig, glich einem frisch geschlüpften Lamm. Sah zugleich aus wie ein Drogenboss: schwarze lange Haare, buschige
Augenbrauen, flacher Hinterkopf, platte Nase, eng zusammenstehende Augen, pralle Backen – es war kein bisschen süß und friedlich, sondern jetzt schon zu allen Untaten bereit.
Ein Kerl, sie blickte ihn zärtlich an: »Du bist verhaftet, lebenslänglich kriegst du von mir aufgebrummt.« Sie nahm ihn etwas hoch, streichelte mit den Fingerspitzen seine
winzige zarte Wange.
    Annie hatte viele Tiere auf die Welt kommen sehen, die Muttertiere bissen in solchen Momenten die Nabelschnur ab, aber dazu würde sie Paula wohl nicht überreden können. Die arme
Mutter lag noch immer auf dem harten Boden. Annie musste wieder schnell handeln, dachte nach, legte dann den Säugling auf Paulas Bauch, holte im Bad zwei Wäscheklammern, lief blitzschnell
zurück, klemmte die Schnur an zwei Stellen ab, zog das Schweizer Messer aus ihrer Hosentasche, klappte es auf und schnitt das Ding durch, machte zwei Knoten rein, wischte sich nun die
Hände an der Hose ab und kapierte endlich, weshalb sie in Filmen immer nach heißem Wasser riefen, wenn eine Frau ein Kind bekam. Sie wickelte den nackten Körper in einen breiten
Wollschal, nun war er kugelrund eingepackt und sicher.
    Dann nahm sie sich Paulas an, zog sie mit aller Kraft hoch und legte sie ins Bett. Die drehte sich auf die Seite und schien leise zu weinen.
    »Paula?«
    Sie hob ihren Arm etwas, als winke sie ab, wolle in Ruhe gelassen werden. Es war darum nicht sie, sondern Annie, die das Baby nun zärtlich im Arm hielt und in Augenschein nahm: Der Junge
war so neu und klein und hatte doch, so schien es ihr, zugleich den Blick eines alten Mannes, als erinnerte er sich, wo er gerade hergekommen war. Sie betrachtete ihn genauer, wenn er wahrhaftig
ein Drogenhändler gewesen war, würde er noch die zahlungskräftigen Kunden kennen oder vermochte sich an die verdeckten Ermittler zu erinnern, die ihm auf die Schliche gekommen waren.
Zugleich hatte er die wohlwollende Autorität eines Bundespräsidenten bei der Weihnachtsansprache oder die von Opa, wenn er aus Kirschen und Bäumen eine Philosophie machte. Ansonsten
war er nichts weiter als ein bisschen Haut und kleinste Knochen mit Lunge und Herz und allem sonst, was man zum Leben brauchte, aber dieser Blick, fand Annie, der war das eigentliche Wunder. Das
Leben zeigte sich in den Augen, wurde ihr klar, wenn jemand tot war, schaut gar nichts mehr, selbst wenn seine Augen noch offen standen.
    Wenn er in diesem Moment hätte sprechen können, hätte der Kerl Annie alle Fragen beantwortet, ob es Himmel oder Hölle oder Gott gab oder einfach nichts, ob im Universum
Außerirdische existierten, ob er früher wirklich schon mal gelebt hatte und nun zum zweiten oder dritten Mal unterwegs war, ob es für die Märtyrer Jungfrauen zur Belohnung gab,
alle Rätsel der jenseitigen Welt hätte er in diesem Augenblick verraten können, wenn es überhaupt irgendetwas von alldem gab, aber er sprach nicht. Annie hielt sich für
eine ähnlich gute Frucht wie eine Kirsche, sie wuchs als Knospe, sie blühte auf und würde weiter gedeihen, reifen, vielleicht jemandem nutzen,

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