Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
sich darüber freuen und vergehen,
ganz einfach. Nichts Besonderes davor und nichts danach.
Der Junge lag derweil einfach in Annies Arm und sah seine Hebamme ungeduldig an, als würde er auf etwas Entscheidendes warten.
»Worauf wartest du denn?«, fragte Annie und schlug sich gegen die Stirn. »Ja, richtig, du wartest darauf, dass ich auf die Uhr gucke, brauchst ja die genaue Geburtszeit, wegen
dem Horoskop.«
Annie wandte sich an Paula: »Weißt du, wie spät es ist?«
Aber die hielt ihre Augen geschlossen und keuchte erschöpft.
Also richtete sich Annie wieder an das Kind: »Horoskope sind eh Schrott, alles Mumpitz. Die Leute haben Glück und Pech, immer abwechselnd, unterschiedlich oft das eine und das andere.
Komm, mein kleiner Verbrecher, deine Zukunft wird beschissen werden, das sage ich dir gleich. Sieh in die Zeitung, dann weißt du, weshalb. Hier, Paula, nimm erst mal dein Kind, halt es fest,
ich bereite alles vor, werde es baden, was meinst du, soll ich? Halt hier fest. Und schau doch, wie er guckt, er guckt wie ein alter Mann, schau dir das an, das ist ein Hammertyp.«
Sie legte ihn in Paulas Armbeuge, ließ die beiden allein, um im Nebenzimmer nach frischen Handtüchern zu kramen, da hörte sie ihn aufschreien. Sie stürmte hin, er lag auf
dem Boden – glücklicherweise noch in den Wollschal gewickelt –, regte sich nicht. Annie fühlte einen Schlag in der Magengrube, krümmte sich und hätte
beinahe erbrochen.
»Großer Gott, du hast ihn fallen lassen!«
Sie würde diese Fremde zermalmen, so eine würde sie ohne zu zögern mit einem Schlag umbringen. Vor Erregung schwirrten silbrige Fische zu Tausenden vor ihren Augen, Magensaft
brannte ihr im Hals, ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Endlich bei ihm ein leichtes Aufschlucken, er berappelte sich, gluckste sogar, atmete. Annie richtete sich auf, löste
ihre Faust. Er hatte sieben Leben, dessen war sie sich nun sicher, landete immer auf den Füßen, Nette nannte so was gutes Karma.
Annie schauderte, sie hätte der jungen Mutter wehgetan, würde das Baby jetzt nicht leben; sie hatte nicht gewusst, zu was sie imstande war. Nicht nur trommeln und
schreien konnte sie, sie konnte gewalttätig werden, wenn es um was ging.
»Schau ihn dir an«, schluchzte sie und hielt Paula den Kleinen zitternd hin. »Du musst ihn nur waschen, dann gefällt er dir vielleicht.«
Aber Paula bäumte sich im Bett auf, stöhnte schwer, stellte ihre Beine auf. Annie war schockiert, es gab doch kein gutes Ende, sie hatte es zu leicht genommen, dachte: Nun ist es
vorbei mit ihr. Sie legte den Neugeborenen schnell in die Ecke, auf den Boden, zur Sicherheit. Auch wenn er hilfsbedürftig war, er musste warten.
Sie hob die Bettdecke hoch, zwischen Paulas Beinen lief Blut auf das Laken, da war etwas Schwammiges, Großes, eine Qualle mit noch mehr Blut. Hatte sie einen Zwilling geboren –
oder was war das sonst, fragte sich Annie und schaute genauer hin. Es war platt wie ein kaputter Handball, hatte dicke Adern, dunkelrot oder lila gefärbt, war glibberig, ohne Augen, ohne Mund.
Sie stupste es mit dem Finger an, aber es gab keinen Ton von sich, rührte sich nicht, war hässlich und tot, nichts daran erinnerte an einen Menschen.
Hört das hier nie mehr auf, soll es immer so weitergehen? Hält Paula das überhaupt noch aus? Wie soll ich alles der KTU erklären, was hier passiert, fragte Annie sich. Ist
das ein Kriminalfall? Im Haus lag ein zerrissener Körper, es roch nach Blut. Wenn jetzt die Polizei kommt, was geschieht dann mit mir, mit den beiden? Man wird mich sicher verhaften.
Paula hatte die Augen geschlossen und wimmerte leise. Annie holte die leichte Federdecke ihres Opas, legte sie über die erschöpfte junge Frau, streichelte ihr freundlich die Wange, sah
die eingefallenen Augen mit dunklen Rändern, die blutleeren Lippen, den schief hängenden Kopf, und es schien ihr, als könnte er fortkullern.
Annie hatte schon viele Leichen gesehen, verbrannt, mit Kugeln im Bauch, aufgehängt oder aufgeschlitzt oder in den See geworfen oder in Beton versteckt, das gab es alles vor acht im Ersten.
Aber hier, wo sie lebte, gab es das nicht. Das einzig Tote, was sie bis jetzt hier gesehen hatte, waren Vogelkadaver, platt gefahrene Igel und von Fallen zerfetzte Füchse. Was, wenn Paula nun
bei ihr starb?
Ich werde ins Gefängnis kommen, weil ich niemanden geholt habe. Keiner wird bezeugen können, dass Paula es mir verboten hat. Ich werde nicht zur KTU
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