Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
weggemacht oder weggegeben haben, und die, die es behielten. Hätte ich, hätte ich bloß, hätte ich nicht.
Ohne Schwangerschaft wäre Paula jetzt woanders, in der Disco, am Strand oder daheim im Bett. Sie hätte keine Schmerzen und auch kein Baby. Irgendwann vor neun Monaten war kurz was
passiert. Das ging schnell wie ein Messer ziehen und zustoßen, schon steckte jemandem eine Klinge in der Leber. Eben war man noch angeln und gleich danach bereits erstochen oder bekam ein
Kind. So stellte sich Annie das vor und fragte sich, ob schwanger werden eine Körperverletzung war oder nicht, ob es dabei freundlich zuging oder kriminell. Was davon hatte Paula hinter sich?
Sie selbst fürchtete sich enorm, dass einer sie quälte, ihr Ohren oder Finger abschnitt. Ein Verbrecher brauchte sie nur einsperren und konnte schon loslegen. Der Körper eines
Menschen war so schrecklich empfindlich, so leicht zu entstellen. Würde sie mal solches Pech haben oder nicht? Wen würde es stattdessen treffen, und weshalb? Ihre Mutter hatte die letzten
Jahre herumgebrüllt, ohne ein Messer im Bauch zu haben, der stach irgendwas gewaltig im Gefühl, solche Schmerzen waren schwerer zu lindern als Schnitte im Fleisch. Insgesamt, zu diesem
Schluss kam Annie, tat das Leben weh.
Sie ließ warmes Wasser ins Waschbecken laufen und packte den Neugeborenen vorsichtig aus. Er hatte riesige Hoden und ein winziges Ding, an seinem Bauch baumelte noch der
Rest der Nabelschnur. Annie hatte keine Ahnung, wie er die loswerden wollte.
Sie fragte sich, wieso Paula sich hier versteckt hatte. Weshalb hatte sie ihr Kind nicht im Krankenhaus gekriegt, wie andere auch? Oder vorher verhütet mit Pille oder Kondom, das konnte
heute doch jeder. Wo war der Vater, wo waren ihre Eltern – vielleicht war sie ja ganz allein auf der Welt.
Dem Kleinen gefiel das warme Wasser gut, er verhielt sich still, ließ seine Beine vom Wasser tragen, freute sich, der Enge des Bauches entkommen zu sein.
Vielleicht, erträumte Annie sich, hatte Paula doch Eltern, und die waren reich und würden ihr ein Leben lang danken, eine Heldin würde sie sein und sogar Patentante werden. Ein
Fahrrad würde sie geschenkt bekommen oder eine Reise hinter ihrer eigenen Mutter her, um sie zurückzuholen.
Allerdings, räumte sie ein, wenn Paula vermisst wurde, dann wäre die Polizei längst mit Hubschraubern über die Ortschaft gekreist, ein brauner von der Bundeswehr oder ein
Polizeihubschrauber in Grün-Weiß, und hätte mit Wärmekamera gesucht, solche Dinge standen zumindest immer in der Zeitung, wenn jemand vermisst wurde. Aber nichts davon war
passiert, niemand schien Paula zu suchen. Es gab keine Plakate oder Flugblätter mit ihrem Foto, und auch in der Zeitung hatte nichts gestanden von einem verschwundenen Mädchen. Sie war
nicht wichtig genug, bestimmt kein bisschen reich und mutterseelenallein, so was landete immer in dieser Gegend. Sie wird kein Fahrrad zur Belohnung bekommen und auch keine Reise.
An dem winzigen Körper klebte milchiger Dreck, den Annie nicht vollständig abwaschen konnte. Also beendete sie das Bad, trocknete den Kleinen ab und wickelte ihn in das ein, was sie im
Kleiderschrank fand, T-Shirts und eine Decke. Sie würde Sachen für ihn brauchen, dachte sie, während sie ihn in den Arm nahm, und Windeln.
»So, jetzt gehen wir Mutti besuchen, ja? Schau mal, da ist sie ja. Da ist die Mammili, sag Hallo Mammi.«
Sie reichte ihn Paula, doch die reagierte nicht.
»Schau ihn dir an, er ist deiner.«
Er schmatzte mit den Lippen.
»Dein Junge, er hat Hunger.«
Die junge Mutter lag bewegungslos da, die Augen offen, die Lippen aufeinandergepresst.
»Du wirst irgendwo mit irgendwem was gehabt haben. Hast im Leben nicht an ein Kind gedacht, sondern nur ans Fummeln. Hast du dich denn nicht gewundert, was da in dir
wächst?«
Paula zog sich die Decke über den Kopf.
»Es dauert nicht mehr lange, dann bist du wieder schlank.«
Annie könnte sie ärgern und ihr erzählen, dass die Muttis bei ihnen im Ort dick blieben und von Kind zu Kind immer fetter wurden, doch sie ließ es lieber. Das Baby begann zu
jammern, hier gab es keine Flasche, keine Milch, nichts.
»Du, zeig her. Hast du eine Brust mit was drin? Pack mal aus, bei dir ist ganz automatisch was zu trinken drin, dein Kleiner braucht was hinter die Kiemen.«
Das Kind brüllte jetzt gotterbärmlich, aber seine Mutter reagierte nicht darauf. Annie könnte ihr mit Gewalt das Hemd ausziehen und die Hände
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