Süße Fesseln der Liebe
sich plötzlich verliebt hatte, wenn ein Körnchen Wahrheit in der Geschichte steckte. Und es war erheblich einfacher, in der Öffentlichkeit keinen Verdacht aufkeimen zu lassen.
Wie um sich selbst zu bestätigen, nickte sie knapp und ging zum Schrank, um ihr zweites Leinenkleid zu suchen. Wie versprochen hatte Mary den groben Bauernrock gewaschen und gebügelt, den sie auf der Reise angezogen hatte. Aurelia beschloss, den Rock auf künftigen Streifzügen durch die Landschaft zu tragen und ihre Londoner Garderobe für den Unterricht im Hause zu verwenden.
Sie war überrascht, wie heftig sie gähnen musste, als sie ihr schmutziges Kleid auf das Bett warf. Jetzt erst bemerkte sie, wie sehr die Anstrengungen des Tages sie erschöpft hatten. Aber sie fühlte sich auch angeregt, geistig erfrischt, selbst wenn ihr Körper schmerzte. Und sie war wie ausgehungert.
Der wundervolle Bratenduft stieg ihr schon in die Nase, als sie auf dem Weg ins Wohnzimmer die Treppe hinunterlief. Mit einem Glas Wein in der Hand wartete Greville bereits am Kamin auf sie. »Wein?«
»Ja, bitte. Obwohl ich wahrscheinlich noch am Tisch einschlafen werde.« Sie nahm ihm das Glas ab, das er ihr reichte. »Wenn ich nicht solchen Bärenhunger hätte, hätte ich mich wohl längst ins Bett gelegt.« Aurelia drehte sich zum kleinen Tisch am Fenster und betrachtete den Stapel Papiere, der dort lag. Auf einer Seite des Blattes war jeweils ein Wort geschrieben, auf die andere eine Zahl.
»Was ist das?«
»Ich dachte, dass wir uns nach dem Dinner ein paar einfache Codes anschauen.«
»Ah.« So viel also zu meiner Erschöpfung, dachte Aurelia. »Wie gut kennen Sie eigentlich Harry Bonham?«
»Nicht besonders gut. Wir sind uns nur ein- oder zweimal über den Weg gelaufen«, antwortete er ausweichend.
»Wegen beruflicher Angelegenheiten, nehme ich an«, sagte sie und achtete genau auf seine Miene.
»Wegen beruflicher Angelegenheiten. Seit wann ist Ihnen bekannt, dass Bonham für das Ministerium arbeitet?«
»Ich habe es erfahren, kurz bevor er Nell geheiratet hat.« Schulterzuckend kam sie zum Kamin. »Wir sprechen nie darüber.«
»Das will ich hoffen.« Greville klang eine Spur eisig.
»Es hört sich an, als würden Sie es missbilligen.« Sie passte sich seinem Tonfall an.
»In der Tat«, schnappte er, »Bonham arbeitet unter höchster Geheimhaltung. Es überrascht mich sogar, dass er seine Frau ins Vertrauen gezogen hat. Und noch viel mehr, dass er ihr gestattet hat, ihre besten Freundinnen einzuweihen.«
»Vielleicht sollten Sie ihn selbst um eine Erklärung bitten«, entgegnete Aurelia mit kalter Stimme, »die Umstände waren … herausfordernd, möchte ich behaupten.«
»Das darf ich auch erwarten.« Er schaute über den Rand des Glases hinweg. »Unsere Umstände werden allerdings weit weniger herausfordernd sein.«
»Sie haben mir bereits Ihr Wort gegeben.«
Greville drehte sich um und stellte das Glas auf den Kaminsims. »Bitte verzeihen Sie, ich wollte keine Zweifel in Ihnen wecken. Trotzdem, Aurelia, in diesem Beruf gibt es eine einzige Grundregel: Sie dürfen niemandem vertrauen. Niemals .«
»Noch nicht einmal Ihnen?« Aurelia starrte ihn an.
»Sie dürfen darauf vertrauen, dass ich Sie nach besten Kräften beschütze. Aber ich kann nicht garantieren, dass Sie in anderer Hinsicht nichts als die Wahrheit von mir hören werden. Es mögen Umstände eintreten, die es nötig erscheinen lassen, Sie zu täuschen. Besser, Sie machen sich darauf gefasst.«
Plötzlich fror Aurelia. Dunkel und unergründlich blickte er sie aus seinen grauen Augen an. Harry und Nell vertrauen einander, schoss es ihr durch den Kopf. Und Harry und Alex übten beide den gleichen Beruf aus, wenn auch auf unterschiedliche Art, und, soweit es Alex betraf, für einen anderen Herrn. Aber es war derselbe schmutzige Krieg, der auch Greville in den Klauen hielt.
Doch kurz darauf erinnerte Aurelia sich, wie beide Paare einander anfangs nicht das geringste Vertrauen geschenkt hatten. Harry und Alex hatten sich ausschließlich um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert, hatten Nell und Liv vor ihren Karren gespannt und die Frauen über ihre Absichten im Dunkeln gelassen - bis die Wahrheit explosionsartig ans Licht gekommen war. Nell und Liv hatten sich mit dem Gedanken aussöhnen müssen, dass ihre Geliebten ihnen nicht vertraut hatten, bis sie förmlich dazu gezwungen worden waren.
Greville dagegen hatte ihr von Anfang an reinen Wein eingeschenkt. Und er hatte sie von
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