Süße Fesseln der Liebe
Anfang an als Verbündete in seinem Kampf gewinnen wollen. Nein, Aurelia machte sich keinerlei Illusionen über die Natur ihrer Verbindung. Vielleicht hatte sie sogar das bessere Los gezogen, weil sie den nackten Tatsachen ins Auge schauen musste. Keine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Auch mit ihren Gefühlen konnte sie nicht in die Falle tappen. Alles, was sie tat, tat sie in vollem Bewusstsein.
»Mit anderen Worten, Sie haben keinerlei Vertrauen zu mir.« Es war eine schlichte Behauptung.
»Ich vertraue niemals.«
»Auch nicht Frederick?«
Seufzend griff Greville wieder nach seinem Glas, nippte und starrte einen Moment lang ins Feuer, bevor er sich ihr wieder zuwandte. »Ich mochte Frederick sehr. Und er hatte die Regeln und Gesetze genau begriffen. Man musste die Vergangenheit hinter sich lassen. In unserem Beruf müssen wir es vermeiden, über die Familie zu sprechen, über unser vergangenes Leben, über Gefühle. Wir müssen lernen, so weit wie möglich als Chiffren zu existieren, als Männer ohne Geschichte und ohne Freundschaften. Was glauben Sie, warum sonst hätte ich nicht wissen sollen, dass seine Ehefrau die beste Freundin seiner Schwester war?«
»Ich hätte angenommen, dass es eine wichtige Information sein könnte.«
Er lächelte jenes reuige, halb spöttische Lächeln, das sie jedes Mal in Sekundenschnelle entwaffnete. »Ja, in diesem Fall wäre es sicher nützlich gewesen, gegen die Regeln zu verstoßen.«
»Ich hätte angenommen, dass jederzeit ein Fall eintreten könnte, der es vorteilhaft erscheinen ließe, gegen die Regeln zu verstoßen.«
Zustimmend neigte er den Kopf. Seine Lider wirkten schwer, als er sie anschaute. »Es scheint, als würde ich gegen die wichtigste Regel bereits verstoßen«, meinte er sanft.
Aurelia neigte ebenfalls den Kopf und runzelte die Brauen. »Oh. Und welche ist das?«
Greville schüttelte den Kopf, als wollte er die Bemerkung am liebsten rückgängig machen. Er trank seinen Wein und war froh, als Mary und Bessie mit dem Dinner das Wohnzimmer betraten. »Kommen Sie zu Tisch.«
Hungrig nahm Aurelia Platz, beschäftigte sich oberflächlich mit dem Dinner, grübelte aber die ganze Zeit darüber nach, welche Regel er wohl gemeint hatte.
Greville legte ihr eine Scheibe Schweinebraten auf den Teller. Dann legte er sich selbst auf und nahm ebenfalls Platz. Seine letzte Bemerkung hätte ihm niemals über die Lippen kommen dürfen. Es lag auf der Hand, dass seine Wachsamkeit langsam nachließ. Natürlich war es immer ausgesprochen vorteilhaft, wenn man anderen Menschen seine Regeln diktieren konnte; wenn man sie aber selbst missachtete, konnte der Nachteil nicht größer sein.
10
Die restliche Zeit in Essex erlebte Aurelia wie in Trance, und sie war sehr dankbar dafür. Denn sie war zu beschäftigt, geistig viel zu angeregt, um ihre Kraft damit zu verschwenden, über die unpassenden Gefühle für ihren Begleiter nachzudenken. Außerdem schien Greville sich ein wenig zurückzuziehen, auf Abstand zwischen ihnen zu achten. Er war der Meister, sie seine Schülerin. Es gab viel zu lernen, so viele Einzelheiten, die sie sich genau einprägen musste.
An ihrem letzten gemeinsamen Abend hatte sie den Eindruck, dass ein anderer Mensch aus ihr geworden war. Oder besser, ein Mensch, der die Welt mit anderen Augen betrachtete. Greville hatte sie gelehrt, auf Kleinigkeiten zu achten, auf winzige Details, die sie in der Vergangenheit kaum beachtet hatte; er hatte sie gelehrt, sich in Worten oder Floskeln auszudrücken, die niemandem in der Gesellschaft auffallen würden, in seinen Ohren aber einen besonderen Klang besaßen. Und er hatte ihr ein paar Gesten und Gebärden beigebracht, die er quer durch einen Raum hinweg deuten konnte.
Es missfiel Aurelia immer noch, eine Feuerwaffe zu gebrauchen, aber sie benahm sich nicht länger zimperlich und war überzeugt, dass sie, falls es notwendig sein würde, den Abzugshahn drücken konnte und würde. Sie hatte gelernt, wie sie einen Verfolger abschütteln und Observationen aus dem Weg gehen konnte. Ja, es stimmte, dass Greville ihr bisher jedes Mal auf die Spur gekommen war, bevor sie sicheres Terrain erreicht hatte. Trotzdem musste er zugeben, dass es ihm immer schwerer gefallen war.
Die echte Prüfung würde ohnehin erst in den Straßen von London stattfinden. Sie hegte die Hoffnung, dass sie jetzt, nachdem ihre Wahrnehmung durch seinen Unterricht geschärft worden war, rascher merken würde, wenn sich ihr im Irrgarten der
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