Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
einem ist, Miss Fairchild. Während meines kurzen Aufenthalts hier habe ich erkannt, dass die gesellschaftlichen Regeln in mancher Hinsicht lockerer sein mögen als die in London, man aber dennoch gewisse Konventionen befolgen muss.“
„So ist es auch, Sir.“ Seine Rücksichtnahme war erstaunlich. Und klug berechnet. Doch welche Beweggründe hatte er? „Dann wäre es wohl unhöflich von mir abzulehnen.“
Er stieg in die Kutsche und half Anna hinein. Sobald sie sich gesetzt hatte, stellte er den Korb zwischen sie beide auf den Sitz und teilte dem Fahrer mit, dass sie bereit seien. Anna lehnte sich zurück und genoss den Luxus, der ihr nicht allzu oft zuteil wurde. Es war zu kostspielig, eine Droschke oder Sänfte zu mieten, wenn jeder Shilling für wichtigere Dinge gebraucht wurde. Stattdessen hatte sie sich festes Schuhwerk beschafft und den größten Regenschirm, den sie handhaben konnte, für jene Tage, wenn typisches Edinburgher Wetter herrschte.
„Haben Sie hier Schüler?“, fragte David, als die Kutsche anfuhr.
„Wie bitte?“
„Ich weiß, Sie betätigen sich neben Ihrer Arbeit bei der ‚Gazette‘ auch als Lehrerin. Ich fragte mich lediglich, ob einige Ihrer Schüler in diesem Gebäude leben.“
Anna wusste, dass nichts an der Fassade einen Hinweis darauf gab, es handle sich um etwas anderes als ein Privathaus. Allerdings wollte sie die Mädchen und ihre Situation nicht mit Mr. Archer besprechen.
„Ja, Sir, einige meiner Schülerinnen wohnen in der Tat in diesem Gebäude. Woher wussten Sie, dass ich unterrichte?“
Er sah auf die Bücher im Korb und strich leicht über den Einband des zuoberst liegenden Bandes. Anna sah ihm dabei zu und fragte sich unwillkürlich, wie es sein mochte, von diesen schlanken Fingern, diesen kräftigen männlichen Händen berührt zu werden. Erschrocken wandte sie den Blick ab und bemühte sich, die Fassung wiederzugewinnen. Was war nur in sie gefahren? Jedes Mal, wenn sie diesem Mann begegnete, erkannte sie sich nicht wieder.
„Zunächst einmal“, sagte er und riss sie aus ihren unruhigen Gedanken, „bemerkte ich diese Lehrbücher schon, als ich Ihnen im Büro der ‚Gazette‘ begegnete. Und dann habe ich Nate gefragt.“
„Nate? Es ist lange her, dass ihn jemand so genannt hat. Kennen Sie sich also schon seit vielen Jahren?“
„Ja, wir sind uns begegnet, da waren wir noch Jungen.“
„Das wusste ich gar nicht. Nathaniel hat sehr wenig über Sie gesprochen.“
Er lachte amüsiert und sah sogar noch attraktiver aus. Doch schnell hatte er sich wieder im Griff. „Ich stelle mir vor, dass Sie es ihm nicht leicht gemacht haben, Miss Fairchild. Ihre Neugier ist Ihnen deutlich anzusehen, und ich bin sicher, Nate hat sich die größte Mühe gegeben, verschwiegen zu bleiben.“
Seine Worte waren nicht als Beleidigung gedacht, doch dem Stirnrunzeln nach zu folgern, mit dem sie ihn jetzt bedachte, schien sie sie als solche aufgefasst zu haben.
„Ich wollte Sie nicht kränken, Miss Fairchild. Dass Sie bei unserer ersten Begegnung mehr erfahren wollten, war selbst für mich offensichtlich.“
„Meine Tante hätte mich gescholten, wie ungehörig so schamlos zur Schau gestellte Neugier ist. Ich hoffe, Sie können mir vergeben.“
„Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich eine so offene Neugier eher erfrischend finde.“
Ihr Mund verzog sich zu einem reizenden Lächeln, das durch zwei Grübchen in ihren Wangen noch verlockender wirkte. Der Wunsch, sich vorzubeugen und diese sinnlichen Lippen zu küssen, überwältigte David fast, und er musste mit aller Kraft gegen die Reaktion seines Körpers ankämpfen.
„Nathaniel hat Sie offenbar noch nicht davor gewarnt, wie unerbittlich ich sein kann, wenn ich etwas erstrebe, Sir. Glauben Sie mir, ‚erfrischend‘ ist nicht das Wort, das er benutzen würde, um dieses Bestreben zu beschreiben.“
Die Kutsche ratterte über das Kopfsteinpflaster und hielt vor dem Büro an der Ecke. Enttäuscht darüber, dass ihr Gespräch schon zu einem Ende kommen musste, fiel David noch rechtzeitig seine Einladung ein.
„Miss Fairchild, wäre es Ihnen möglich, ein wenig Zeit zu erübrigen und mich morgen Vormittag zum Schloss zu begleiten? Ich möchte mir die schottischen Kronjuwelen ansehen.“
„Morgen Vormittag?“
„Mir wurde gesagt, dass sie sehr beeindruckend sein sollen. Ich wollte sie mir eigentlich während meines Aufenthalts hier ansehen, aber wenn Sie vielleicht schon dort gewesen sind, kann ich es
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