Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
hat er hier in Edinburgh zu erledigen?“
Nathaniel fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Hat er während eures Spaziergangs nichts davon erwähnt?“
Ausflüchte. Unbehagen. Schuldgefühle.
In all den Jahren ihrer Freundschaft hatte sie nie einen Grund gehabt, ihn für unehrlich zu halten. Bis jetzt.
„Wir sprachen über die Stadt.“
Er holte tief Luft und lächelte. „Mr. Archer möchte hier ein Haus kaufen und hat mich um Hilfe gebeten.“
„Aha. Und wirst du ihm helfen?“
„Ich habe ihm gesagt, ich kenne mich besser auf dem Land aus als in der Stadt, aber das schien ihn nicht von seinem Entschluss abzubringen.“
Nathaniel war ganz offensichtlich nicht begeistert. War denn seine Bekanntschaft mit Mr. Archer so unangenehm gewesen, dass er einen weiteren Umgang mit ihm lieber vermeiden würde? Offenbar ja.
„Warum leitest du ihn dann nicht an deinen Sekretär weiter? Wenn du dich weigerst, ziehst du vielleicht mehr Aufmerksamkeit auf dich, als dir lieb zu sein scheint.“
Nathaniel nickte. „Wieder überraschst du mich mit deiner Weisheit, Anna. Das ist eine großartige Idee und wird außerdem seinen Besuch hier schneller zu einem Ende bringen.“
Er wünschte sich also, dass Mr. Archer so bald wie möglich abreiste. Anna hatte Nathaniel noch nie in einer solchen Aufregung erlebt.
Selbst in der schwierigsten Lage legte er für gewöhnlich Ruhe und Gelassenheit an den Tag. Während er geschickt das Thema wechselte, grübelte Anna weiter und beschloss, auf ihre Weise mehr über den geheimnisvollen Mr. Archer herauszufinden.
„Haben Sie ihn gesehen?“, fragte David, während er in die Droschke stieg.
„Jawohl, Mylord.“
David schüttelte den Kopf. „Hier in Edinburgh reicht ‚Mr. Archer‘. Ich möchte nur über sein tägliches Arbeitsprogramm informiert werden. Einzelheiten persönlicher Art sind nicht nötig.“
Nathaniels Leben ging David nur insofern etwas an, wenn es mit der „Gazette“ in Zusammenhang stand. Was sollte es ihn interessieren, ob er sich eine Mätresse hielt oder was er sonst in seiner Freizeit unternahm?
„Verstanden, Sir“, erwiderte Keys. „Und die Frau?“, fragte er und sah zum Büro der „Gazette“ hinüber, genau gegenüber von dort, wo sie saßen. „Soll sie auch von einem meiner Männer verfolgt werden?“
David sah zu der Tür, wo er Miss Fairchild das letzte Mal gesehen hatte – mit den vom schnellen Spaziergang geröteten Wangen und den strahlenden braunen Augen war sie ein reizender Anblick gewesen. Seine strengen Worte hatten sie zwar verärgert, aber er war sicher, dass ihre Intelligenz und Neugier sich nicht so leicht unterdrücken ließen. Lächelnd stellte er sich vor, wie Miss Fairchild wahrscheinlich genau in diesem Moment den armen Nathaniel mit Fragen über Mr. Archer bedrängte.
„Miss Fairchild?“ David schüttelte den Kopf. „Nein, Keys. Beschränken Sie Ihre Bemühungen bitte lediglich auf Mr. Hobbs-Smith und dessen Sekretär.“
Keys nickte und packte den Türgriff der Droschke. „Wie Sie wünschen, Sir.“
„Zwei Tage, Keys, höchstens drei. Dann erwarte ich Ihren Bericht.“
„Das dürfte eine leichte Angelegenheit sein, Sir.“
Keys schloss die Tür, und David lehnte sich in den Polstern zurück. Die Zuversicht des Mannes beruhigte ihn nicht. Wenn es eine leichte Angelegenheit wäre, wäre sie bereits erledigt. In Gedanken versunken, fasste er die Fenster des Gebäudes gegenüber ins Auge, hinter deren Scheiben er allerdings nur undeutliche Schatten wahrnahm. Nach einer Weile wies er sich zurecht, weil er erkannte, warum er hier saß und nicht den Blick vom Büro der „Gazette“ nehmen konnte.
Er hoffte, Miss Fairchild am Fenster zu entdecken.
Und dann wurde ihm auch bewusst, warum er Keys nicht erlaubt hatte, einen Mann auf Miss Fairchild anzusetzen. Er klopfte gereizt an die Decke der Droschke, und gleich darauf setzte das Gefährt sich in Gang. David war sich einer Sache sicher – wenn jemand Miss Fairchild verfolgen musste, dann durfte nur er selbst es sein.
Zum Teufel! Das könnte noch die größte Verwirrung verursachen.
6. KAPITEL
„Nein, Becky. Versuch es einmal so.“ Anna schrieb für eine ihrer Schülerinnen den neuen Buchstaben mit Kreide auf eine Schiefertafel. „Lass die Hand erst hoch und dann nach unten gleiten.“ Während Becky tapfer versuchte, die Bewegung nachzumachen, zeigte Anna den Buchstaben dem Rest der Klasse. „Das Q sieht man immer zusammen mit dem Buchstaben U, also lasst ihn
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