Sueße Prophezeiung
Trophäe.
»Schau, wen wir hier haben, Claudia! Unsere schöne Cousine Avalon!«
Die so Angesprochene trat nicht aus dem Schatten. Sie legte den Kopf zurück, als müsste sie etwas ins Auge fassen, das zu nahe war. Dann blickte sie über Avalons Schulter in die Ferne.
»Willkommen auf Trayleigh Castle.« Ihre Stimme hatte einen heiseren schleppenden Klang. »Oder eher: willkommen zurück.«
»Danke«, erwiderte Avalon etwas ratlos, während sie angesichts der Worte der Frau gegen ein heftiges Gefühl der Enttäuschung ankämpfte. Niemand konnte reinen Gewissens behaupten, dass Claudia sich freute, und vielleicht wurde Bryce deshalb sogar noch überschwänglicher, um ihren Mangel an Begeisterung auszugleichen.
»Du musst erschöpft sein, liebe Cousine. Komm herein. Ruhe dich aus. Sicher bist du glücklich, wieder zu Hause zu sein.«
Avalon ging mit ihm an der langen Reihe von Frauen vorbei, die sie alle bis auf Claudia neugierig anschauten.
Auch die große Halle sah jetzt anders aus, als sie auf die kindlichen Augen gewirkt hatte. Sie musste geschrumpft sein, die Wandbehänge und die Tische waren andere. Selbst die Lichtverhältnisse schienen sich geändert zu haben. Alles wirkte schärfer und hatte härtere Konturen. Irgendetwas war seltsam, kam ihr falsch vor, doch Avalon konnte es nicht benennen. Das Unbehagen, das sie schon vorher gespürt hatte, verstärkte sich und ließ sich kaum mehr unterdrücken.
Sie spürte, wie sich die Chimäre unruhig im Schlaf wälzte.
Bryce winkte mit der Hand, und eine Magd, die kaum älter als Avalon war, trat vor.
»Man wird dich zu deinen Räumen führen, wo du dich bis heute Abend ausruhst. Wir freuen uns, wenn du uns dann Gesellschaft leistest.«
Avalon schaute zu ihrem hellhaarigen und in seiner mit Steinen besetzten Tunika eindrucksvoll wirkenden Cousin auf. Der unterschwellige Befehl in seinen Worten war ihr nicht entgangen. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, wurde übermächtig und streckte langsam seine Greifarme aus.
»Ich wünsche dir einen schönen Tag, Cousin Bryce«, sagte sie und machte einen Knicks.
Er warf ihr ein strahlendes Lächeln zu.
»Dir auch guten Einstand, Avalon!«
Die Räume, die man ihr zugewiesen hatte, waren nicht dieselben, die sie als Kind bewohnt hatte. Sie meinte, sich zu erinnern, dass diese Gemächer einst eine Edelfrau, eine vornehme Dame, bewohnte, die immer ein nettes Wort für sie übrig gehabt hatte. Wer war das noch gewesen? Ah, Lady Luedella. Avalon fragte sich, was aus ihr geworden sein mochte. Doch dann verdrängte sie den Gedanken. Wenn die Pikten sie gefunden hatten, wollte Avalon es nicht wissen.
Die Gemächer gefielen ihr. Die Bettstatt war sauber und dick mit Pelzen bedeckt. Die Binsen auf dem Boden dufteten frisch. Im Kamin brannte ein Feuer. Sie hatte sogar einen persischen Teppich, dessen verschlungene Muster und Blumen bei ihr Schwindel hervorriefen, wenn sie ihn länger betrachtete.
Alles war zufrieden stellend – ja, die Ausstattung grenzte fast an Luxus und spiegelte damit den Reichtum des Landsitzes wider. Warum konnte Avalon dennoch nicht das Gefühl loswerden, in einer Falle zu sitzen?
Sie trat ans Fenster und blickte auf der Suche nach der alten Birke hinaus. Die höchsten Äste waren zu sehen, doch mehr nicht. Die Birke stand auf der anderen Seite der Burg. Erfreulicherweise war das Wenige, was sie von dem Baum erblickte, grün.
Niemand sprach je mit ihr über die einstige Tragödie. Weder Hanoch noch Maribel oder die Dienstboten. Es schien, als wollte jeder sie aus der Geschichte tilgen. Gab es noch irgendjemanden von damals, als Avalon sich rundum glücklich fühlte? Vielleicht. Vielleicht ...
Eine kleine und ehrerbietige Magd trat ein. Sie machte einen Knicks und öffnete dann weit die Tür für mehrere Männer, die Avalons Truhen hereintrugen. Es gab eine Menge davon.
Avalon und die Magd schauten zu, wie die Knechte die Truhen an der Wand abstellten und dann wieder gingen, um mit weiteren zu kommen.
»Sag mal«, setzte Avalon an und brachte das Mädchen dazu, erschreckt aufzufahren. Sie unterdrückte ein Lächeln. »Entschuldige bitte.«
Verlegen errötete das Mädchen und wich ihrem Blick aus.
»Könntest du mir zufälligerweise sagen, was aus der Dame geworden ist, die diese Räume bewohnte?«
Die Magd warf ihr einen betretenen Blick zu, als ob die einfache Frage sie überforderte, und schüttelte dann den gesenkten Kopf.
»Nun denn ... oder kennst du jemanden, der das wissen
Weitere Kostenlose Bücher