Sueße Prophezeiung
und Avalon beobachtete. Bei Avalons vorsichtigem Versuch, sie in die Unterhaltung einzubeziehen, hatte diese sie nur schweigend angestarrt und Avalons höfliche Bemerkung zu irgendeinem nebensächlichen Thema unbeantwortet gelassen. Dann hatte sie sich abgewandt und noch einen Schluck aus ihrem Kelch genommen. Bryce wollte die Peinlichkeit überbrücken, indem er Avalon den Rehbraten vom nächsten Gang anbot. Doch Avalon lehnte ab.
Sie hatte noch nie einer solch seltsamen Mahlzeit beigewohnt. Nicht in Schottland, wo eine ausgelassene Stimmung herrschte, während man aß, noch in Gatting, wo man ihr beigebracht hatte, dass es sich in der Welt der Vornehmen nicht gehörte, die Unterhaltung während der Mahlzeit nur von einer Person bestreiten zu lassen.
In der Halle ihres Vaters war es immer laut und fröhlich zugegangen. So hatte es zumindest dem kleinen Mädchen geschienen, das neidisch von der Haupttreppe aus nach unten geblinzelt hatte und noch zu jung war, um dabei sein zu dürfen.
Aber das gab es nicht mehr. Dies war nicht das Heim ihrer Erinnerung. Eine gewisse Anspannung lag in der Luft. Daran bestand kein Zweifel. Das Misstrauen, das sie schon in ihren Räumlichkeiten gespürt hatte, wurde noch von den nervösen Blicken der Edelleute und dem verbissenen Kauen der Soldaten verstärkt. Auf den Lippen der rastlos lauernden und bis oben hin mit Wein abgefüllten Lady Claudia lag nun ein leichtes Lächeln.
Avalon musste sich zurückhalten, um nicht nach dem letzten Gang aufzuspringen.
»Ich danke dir für deine Gastfreundschaft, Cousin«, sagte sie, während sie ihren Stuhl mit einer, wie sie hoffte, nicht allzu hastigen Bewegung zurückschob.
Bryce erhob sich viel schneller. »Was? Willst du dich etwa schon so früh zurückziehen, liebe Avalon?«
Stille senkte sich über die Halle.
Sie verharrte immer noch sitzend und erwiderte dann: »Ja, gewiss. Es ist ein sehr langer Tag gewesen.«
Bryce brachte sich hinter Claudias Stuhl in Stellung, während Avalon ihn vorsichtig beobachtete. Er legte eine seiner fleischigen Hände auf die Schulter seiner Gemahlin.
»Aber es ist doch noch nicht spät, Avalon! Sag nicht, dass du uns jetzt schon verlassen willst. Claudia hat sich so darauf gefreut, dich nach dem Abendessen spielen zu hören, nicht wahr, meine Gemahlin?«
Lady Claudias Zähne waren vom Rotwein verfärbt, wodurch ihr Mund rubinrot schimmerte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und verzog sie zu einem schwachen Lächeln. »So ist es.«
Doch Avalon stand auf, und ihr Ton war bestimmt.
»Es tut mir wirklich sehr Leid, aber leider besitze ich kein musikalisches Talent. Ich kann nicht spielen.«
Bryce legte auch seine andere Hand auf Claudias Schulter. »Natürlich kannst du es nicht. Wie dumm von mir, so etwas vorzuschlagen! So wie du aufgewachsen bist, hattest du natürlich nicht die Gelegenheit ...«
»Auch in Schottland gibt es Musik, Mylord«, fiel sie ihm ins Wort. Sie war eher amüsiert als verärgert. »Ich wollte damit nur sagen, dass ich nicht über die Fähigkeit verfüge.«
»Dann wird Claudia für dich spielen, nicht wahr, meine Liebe?«
Claudia neigte den Kopf und schien in ein Lachen ausbrechen zu wollen.
»Aber gerne«, keuchte sie nach einem Moment. Es schien keine andere Möglichkeit zu geben, als Claudia zu folgen, die zum Kamin ging. Es lag immer noch dieses seltsame Lächeln auf ihren Lippen.
Soweit Avalon das beurteilen konnte, beherrschte sie das Psalterium ziemlich gut. Sie hätte angenommen, dass sonst flinke Finger durch den vielen Wein unbeholfen in die Saiten greifen würden. Doch Claudia hielt ein gleichmäßiges Tempo, das sie mit dem rhythmischen Klopfen ihres Fußes auf den Boden begleitete, während sie mit ihrer leicht heiseren Stimme eine lebhafte Weise zum Besten gab.
Die Frauen hatten sich rings um sie versammelt. Die Reste der Mahlzeit waren von der Dienerschaft abgeräumt worden, und die Männer hatten sich zurückgezogen. Avalon war es schleierhaft, was sie taten. Sogar Bryce hatte die Schar verlassen, nachdem sichergestellt war, dass Avalon nicht vom Kamin wegkonnte. Er hatte seine Gattin mit seiner lauten und fröhlichen Stimme noch inständig gebeten, ja weiterzuspielen.
Und das tat Claudia. Nachdem Bryce gegangen war, stimmte sie ein Lied nach dem anderen an. Jetzt sang sie eine französische Ballade, die langsamer und melancholischer war. Die Stimmung schien die Schar der Frauen zu durchdringen. Claudia legte nur kurze Pausen ein, um
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