Süße Rache: Roman (German Edition)
konnte zeitweise ein ziemliches Ungeheuer sein. Nachsicht – gegen sich oder andere – zählte nicht zu seinen herausragenden Eigenschaften. Manche Menschen versuchten sich ihr wahres Wesen schönzureden, aber das hatte Simon nie getan. Er war, was er war, weil ihm ein Leben nicht viel bedeutete, weder sein eigenes noch das eines anderen Menschen.
Bis jetzt.
Bis er Drea getroffen hatte.
Der Raum lag im Halblicht, an den Seitenwänden gab es Leuchter, und die Front bestand aus einem von hinten beleuchteten Buntglasfenster, das den kleinen Raum mit Farben überflutete. Die Luft war kühl und roch angenehm nach dem frischen Blumenstrauß, der auf einem Tisch vor dem kleinen Altar stand. Es gab drei gepolsterte Sitzbänke, in die jeweils vielleicht vier Besucher passten, aber außer ihm war niemand im Raum.
Er setzte sich in die mittlere Reihe, schloss die Augen und ließ sich von der Stille überspülen und zur Ruhe bringen. Es gab keine Musik. Falls ein Band mit Kirchenmusik gelaufen wäre, wäre er wahrscheinlich wieder gegangen, aber hier gab es nur Frieden und Stille.
Drea lebte noch. Noch wusste er nicht genau, was das bedeutete, noch hatte er nicht akzeptieren können, dass sich der Boden unter seinen Füßen aufgetan hatte und er sich krampfhaft festzukrallen versuchte. Ein paar Atemzüge
lang versuchte er sich zu entspannen und ließ von den weich leuchtenden Scheiben des Buntglasfensters farbige Flecken auf die Innenseite seiner Lider zaubern. Der Blumenduft verführte ihn durchzuatmen, die kühle Luft tief in die Lunge zu ziehen, bis sich das eiserne Band um seine Brust lockerte.
Eine seiner grundlegenden Eigenschaften war ein unbarmherziger Realismus. Sein Charakter machte es ihm unmöglich, das abzutun, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, was er mit Sicherheit wusste. Drea war gestorben. Er hatte gehört, wie sie ihren letzten Atemzug getan hatte, er hatte gesehen, wie das Licht in ihren Augen erloschen war. Er hatte gespürt, wie sich das Fleisch unter seiner Berührung verändert hatte, weil Leichen sofort auszukühlen begannen. Die weiche Haut hatte ihre Wärme, ihre Lebendigkeit verloren. Auf einer tieferen Ebene hatte er gefühlt, dass sie nicht mehr bei ihm war, dass der Mensch, der Geist, die Seele, wie auch immer, den Körper verlassen hatte. Ohne jenen belebenden Funken ist der Körper anders, ist er kein Mensch mehr.
Er hatte zu lange neben ihr gestanden, um glauben zu können, dass er sie irrtümlich für tot gehalten hatte. Ihr Herz hatte nicht geschlagen, sie hatte nicht geatmet. Es hatte mindestens eine halbe Stunde, wenn nicht länger, gedauert, bis der Krankenwagen kam. Für eine Wiederbelebung hätte es da längst zu spät sein müssen; das Hirn begann schon nach vier Minuten abzusterben. Sie hätte hirntot sein müssen, und nicht einmal die heroischsten Anstrengungen, sie wiederzubeleben, hätten fruchten dürfen. Der Mann im Warteraum hatte erzählt, die Sanitäter hätten gerade ihre Sachen zusammengepackt, als sie von selbst zu atmen begonnen hatte. Hatten sie überhaupt versucht, sie wiederzubeleben? Nachdem sie so lange tot gewesen war?
Und doch saß sie jetzt in ihrem Krankenbett, unbestreitbar lebendig, fröhlich plaudernd und überglücklich, dass sie Götterspeise mit Orangengeschmack essen durfte.
Dass sie überhaupt noch lebte, war ein Wunder. Dass sie diesen Unfall ohne jeden Hirnschaden überstanden hatte, war ein zweites, sogar noch größeres Wunder. Er glaubte nicht an Wunder. Falls er überhaupt einer Lebensphilosophie anhing, dann am ehesten dem klassischen »Jeder Mist kann passieren.« Manchmal war es übelriechender Mist, manchmal fruchtbarer Mist, aber in jedem Fall war es Mist. Jeder lebte sein Leben, und wenn man vom Spielfeld geholt wurde, dann war Schluss. Und Aus.
Aber das hier konnte er nicht erklären. Diese Sache hier hatte ihn an der Gurgel und an den Eiern gepackt und ließ nicht mehr los, er musste sich ihr stellen.
Etwas hatte sie ins Leben zurückgeholt.
Er schlug die Augen auf und starrte die bunten Scheiben an, ohne etwas zu sehen.
Gab es vielleicht etwas zwischen Geburt und Tod, das über den Organismus, der dem Ende seiner Lebensfähigkeit entgegenstrebte, hinausging? Gab es vielleicht etwas, das so mächtig war, dass es einem auskühlenden Leichnam neues Leben einhauchen konnte? Falls ja, dann bedeutete das … dann bedeutete das, dass nach dem Leben noch etwas kam, dass der Tod nicht das Ende war.
Falls es ein Leben nach dem Tod
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