Süße Rache: Roman (German Edition)
geistig unversehrt war. Er musste sich zusammenreißen und herausfinden, wie es ihr wirklich ging, statt seinen Phantasien nachzuhängen.
Scheiße. Phantasien. Seit wann hatte er verflucht noch mal Phantasien? Er verließ sich ausschließlich auf Fakten, auf die Wirklichkeit, auf das, was war. Auf die Wirklichkeit war Verlass, sie war wie eine eiskalte und beinharte Zicke. Das war okay, er war ein kalter, harter Bock. Sie waren ein gutes Team.
Er atmete mehrmals tief durch und schüttelte das ab, was ihn so rastlos gemacht hatte. Er brauchte nur Drea zu
finden und festzustellen, in welcher Verfassung sie wirklich war; dann konnte er nach New York zurückfliegen. Er hatte genug zu tun; er hatte sich schon zu lange am selben Ort aufgehalten, es war Zeit weiterzuziehen. Er würde nach Drea sehen; wenn mit ihr alles in Ordnung war, würde er aus ihrem Leben verschwinden.
21
Die chirurgische Abteilung lag einen Stock tiefer, darum nahm Simon die Treppe, statt auf den Lift zu warten. Er nahm sowieso lieber die Treppe; dort hatte er immer zwei Richtungen zur Auswahl, während er im Aufzug in einer kleinen Schachtel gefangen war, die stoisch ihren elektronischen Befehlen folgte. Wenn der Lift abwärtsfuhr, konnte er die Fahrtrichtung nicht einfach umkehren, indem er den Knopf für ein höheres Stockwerk drückte.
Das Krankenhaus war wie ein riesiges liegendes T angelegt. Er betrat den langen Korridor am Fuß des Ts und schritt ihn systematisch ab. An jedem Zimmer war ein kleines Schild mit dem Nachnamen des Patienten und dem Namen des behandelnden Arztes angebracht, was für seine Zwecke ausgesprochen praktisch war.
Das Schwesternzimmer lag am Schnittpunkt der beiden Gänge, aber die Schwestern konnten die Gänge nur überblicken, wenn sie hinter der Trennwand hervortraten. Im Augenblick ging der Schichtwechsel gerade zu Ende, und das Frühstück wurde serviert, weshalb es im Korridor hoch herging und er im allgemeinen Trubel nicht auffiel.
Er bewegte sich entspannt und blickte auf seinem Weg in jedes Zimmer mit offener Tür, achtete aber immer darauf, nur seine Augen zu bewegen und den Kopf ruhig zu halten, damit es für einen zufälligen Beobachter so aussah, als interessiere er sich nicht für die Patienten.
Mindestens die Hälfte der Türen war geschlossen, aber schon beim ersten Durchgang hatte er alle Patienten ausschließen können, deren Zimmertüren offen standen, keine davon war Drea. Im Vorbeigehen merkte er sich gleichzeitig, auf welchen Türschildern Dr. Meecham als Arzt aufgeführt war, und markierte die betreffenden Räume auf der dreidimensionalen Umgebungskarte, die er ständig im Kopf trug.
Dann sah er den Vermerk »Anonym« und wäre fast ins Stolpern gekommen.
Zimmer 614. Meecham war auch hier als Arzt angegeben.
Die Tür war zu, trotzdem wusste er, dass er sie gefunden hatte. Sie war hier, gleich hinter dieser Tür. Er wusste, dass dort Drea lag. Natürlich gab es immer wieder anonyme Unfallopfer, aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass noch eines hier auf diesem Stockwerk lag und von Dr. Meecham behandelt wurde?
Noch bevor er begriff, dass er die Hand ausgestreckt hatte, schlossen sich seine Finger um den Türknauf.
Langsam, behutsam zwang er sich, den Knauf loszulassen. Wenn er jetzt in ihr Zimmer trat, würde sie wie am Spieß zu schreien beginnen – vorausgesetzt, sie erkannte ihn. Er wusste immer noch nicht, in welchem geistigen Zustand sie sich befand.
Das Türschild verriet nichts darüber. Falls sie den Unfall ohne Gehirnschaden überstanden hatte, würde sie die Umstände zu ihrem Vorteil nutzen und niemandem verraten,
wie sie hieß. Falls sie doch einen Hirnschaden davongetragen hatte, wofür manches sprach, wusste sie ihren Namen womöglich wirklich nicht mehr.
Erst jetzt fiel ihm der Zettel an der Tür auf. Keine Besucher.
Das Schild konnte zweierlei bedeuten. Offenkundig war, dass keine Besucher zugelassen waren. Doch darunter lag die Frage: »Warum?« Wer hatte das Schild aufgehängt? Das Krankenhaus, weil Gaffer oder die Presse die Patientin belästigt, beunruhigt oder beglotzt hatten, oder hatte die Patientin selbst darum gebeten, diesen Hinweis anzubringen? Drea wollte bestimmt keinen Besuch von der Presse bekommen, sie wollte sicher auch die Bullen auf Abstand halten, bis sie eine glaubhafte Story zusammengesponnen hatte und sich kräftig genug fühlte, um sich ihren Besuchern zu stellen.
Jetzt wusste er wenigstens, unter welcher Bezeichnung sie geführt
Weitere Kostenlose Bücher