Süße Rache: Roman (German Edition)
Menschen über alles Mögliche. Sie redeten, um das Warten zu verkürzen, sie redeten, um sich abzulenken, sie knüpften Beziehungen, die vielleicht nur so lange Bestand hatten, wie ihre geliebten Angehörigen auf der Intensivstation lagen, aber solange sie gemeinsam in diesem Glaskäfig eingeschlossen waren, lachten und weinten sie miteinander, trösteten sie sich, tauschten Familienrezepte und Geburtstage aus – alles, um das hier zu überstehen.
»Meecham«, kam die Antwort. »Ein Herzspezialist.«
Bestimmt machte der Arzt jeden Tag seine Runde und besuchte seine Patienten. Wenn jemand eine so traumatische Verletzung erlitten hatte wie Drea, hing das Ego des Arztes daran, wie gut sich der Patient erholte, vor allem, wenn der Patient wider alle Wahrscheinlichkeit überlebt hatte. Es konnte nicht so schwer sein, Dr. Meecham zu finden; und es wäre auch kein Problem, ihm zu folgen.
Er überlegte, wie ein Krankenhaus organisiert war. Die Patienten wurden nicht nach Gutdünken auf die freien Betten verteilt; in jedem Stockwerk gab es eine andere Station, damit die Pflege je nach Krankheit möglichst effektiv durchgeführt werden konnte. Es gab die Entbindungsstation, die orthopädische Station und die chirurgische Nachsorgestation, auf der bestimmt auch Drea liegen würde.
Die Türen zu den Krankenzimmern standen oft offen, sei es aus Gedankenlosigkeit, weil es jemand eilig hatte oder weil es so für das Pflegepersonal am praktischsten war. Die Chance, dass er sie entdeckte, wenn er einmal durch die chirurgische Station spazierte und einen Blick
in alle Zimmer mit offenen Türen warf, stand mindestens fünfzig zu fünfzig. Falls nicht, müsste er Dr. Meecham nachschleichen. So oder so würde er sie finden. Noch nie in seinem Leben war ihm etwas so wichtig gewesen.
Noch nie hatte ihm etwas wirklich am Herzen gelegen, schon gar nicht so sehr, dass er sich nicht jederzeit davon lösen konnte. Es gefiel ihm nicht, aber hiervon konnte er sich beim besten Willen nicht lösen. Drea war eine Schwachstelle, an der er angegriffen werden konnte, von Salinas oder jedem anderen, der sich ausgerechnet hatte, dass seine Rüstung rissig geworden war.
Auf der anderen Seite des Ganges ging die Tür zur Intensivstation auf, und ein Trupp von Pflegern und Schwestern marschierte aus der Station. Weil er nicht mehr auf die Station gelangen musste, folgte er ihnen nicht. Falls sich herausstellte, dass er sich einen Ausweis besorgen musste, um in einen zugangsbeschränkten Bereich des Krankenhauses zu gelangen, würde er sich einen beschaffen, aber erst wollte er feststellen, ob sich Drea nicht einfacher finden ließ.
Sie war hier, sie lebte und sie sprach.
Schlagartig konnte er keine Sekunde länger sitzen bleiben, er konnte nicht mehr so tun, als würde er sich um seine nicht existierende Mutter sorgen, er wollte nur noch irgendwohin verschwinden und allein sein, bis er sich wieder in der Gewalt hatte.
»Verzeihung«, löste er sich aus der Unterhaltung, die um ihn herum in Gang gekommen war, stand auf und eilte aus dem Warteraum. Er sah nach links und rechts, entdeckte eine Toilette und wäre am liebsten losgerannt. Gott sei Dank war es eine Einzelkabine; er verriegelte die Tür und blieb dann bibbernd in der kleinen Kammer stehen.
Was zum Teufel war mit ihm los? Seit er erwachsen war und schon einige Jahre zuvor hatte er sich bemüht, seine Selbstbeherrschung zur Perfektion zu bringen. Er hatte sich getestet, seine Grenzen ausgelotet und diese Grenzen dann immer weiter hinausgeschoben. Er war nicht daran zerbrochen, er war nie zerbrochen. Jede Tat und jedes Wort hatte er genau überlegt und so gewählt, dass sie das erwünschte Resultat nach sich zog.
Er würde auch das hier durchstehen. Dass sie noch lebte und zumindest kommunizieren konnte, war eine gute Nachricht – es war zwar ein Schock, aber kein unüberwindbarer. Falls er irgendwie mit ihr sprechen konnte, ohne ihr dabei Todesangst einzujagen, würde er ihr erklären, dass sie nichts mehr zu befürchten hatte, dass Salinas sie für tot hielt und dass sie ihr Leben unbehelligt weiterführen konnte. Allerdings nicht gleich; sie war bestimmt noch zu geschwächt, und er wollte ihr Herz nicht unnötig belasten. Gott allein wusste, welche Schädigungen sie davongetragen hatte.
Außerdem war es durchaus möglich, dass sie tatsächlich nicht mehr wusste, wer sie war, und dann würde sie sich auch nicht an ihn erinnern. Dass sie sprach, hieß noch lange nicht, dass sie
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