Sueße Versuchung
Edward biss sich vor Schmerzen auf die Lippen. Er hielt sich mit dem gesunden Arm im Gras fest und mit dem verletzten Arm hielt er Sophie. In Gedanken tötete er den Mann, der ihm in der Höhle die Wunde verpasst hatte, ein weiteres Mal.
»Du musst selbst heraufklettern.«
Sophie krallte die Finger in die Wand vor ihr. Das lockere Gestein gab nach, bröckelte ab. Sie hörte es überdeutlich an den Felsvorsprüngen aufschlagen und vermeinte dann sogar das Platschen zu hören, mit dem es in der Brandung aufschlug.
Sie drehte wie magisch angezogen den Kopf und sah schaudernd hinunter.
»Nicht hinuntersehen!«, kam es in diesem Moment von Edward, obwohl er nicht beobachten konnte, was sie gerade tat. »Und jetzt halt dich mit der anderen Hand fest.
Sophie! Bei allen Qualen der Hölle! Tu, was ich dir sage!«
»Tu ich doch! Wenn es so einfach wäre, würde ich dich nicht brauchen! Lass mich bloß nicht fallen …«
Edward fluchte. Sie konnte sicher sein, dass er sie niemals fallen lassen würde, aber er konnte nicht sicher sein, dass das Stück, auf dem er ausgestreckt lag, nicht abbrach und sie gemeinsam hinunterstürzten. Er hatte bisher nur einmal versucht, sich unter einen fallenden Körper zu werfen, um den Sturz abzufangen, und das war auf dem Sofa in seiner Bibliothek gewesen, als Sophie betrunken runtergerutscht war. Und verdammt noch mal, genau das würde er jetzt wieder tun, wenn sie beide stürzten. Die Brandung schlug heftig gegen die Kreidefelsen tief unter ihnen. Wenn sie dann noch in eine der höheren Wellen fielen, bremste das Wasser den Fall ebenfalls. Vielleicht gab ihr das eine Chance. Und wäre es auch nur eine kleine. Viele »Vielleichts«.
Sophie grub ihre Finger tiefer in das von Steinen durchsetzte Erdreich. Ihre Fingernägel brachen, als sie sich hineinkrallte, ein Brocken Erde ging ab. Plötzlich hatte sie das Gefühl, Edwards Arm gebe nach. Hastig strampelte sie mit den Beinen, suchte Halt.
»Zappel nicht so!« Die Adern und Sehnen auf seiner Hand traten weit hervor. Er hatte zwar versprochen, sie sicher zu halten, aber Sophie wusste, dass – wenn sie jetzt nichts unternahm – der Tag ihres ganz persönlichen Jüngsten Gerichts näher war, als die Bibel vermuten ließ.
Der Wind zauste an ihrem Haar, als sie vorsichtig mit den Zehen nach Halt suchte.
Endlich, hier schien ihr ein Kreidebrocken mehr Sicherheit zu gewähren als der andere. Sie versuchte ihr Gewicht sachte darauf zu verlagern, um Edward die Last zu erleichtern. Plötzlich tropfte etwas Nasses auf ihre Wange. Sie sah hoch und erkannte entsetzt das Blutrinnsal, das von Edwards Arm hinunterfloss und eine leuchtendrote Spur auf seiner bloßen Haut zog.
Und in diesem Moment fand sie Halt. Gottlob, der Stein unter ihrem Fuß hielt. Auch das Erdreich unter ihren Fingern gab nicht mehr nach, sie fühlte die Wurzeln des saftigen Grases, das den Rand der Klippen bewuchs, klammerte sich fester und zog sich hinauf.
Edwards Arm zog mit, die Blutspur verstärkte sich, Sophie hörte sein gepresstes Stöhnen, und mehr die Sorge um ihn als die Angst vor der Tiefe ließ sie sich festkrallen, sich ihre Knie aufschürfen, als sie auf dem Felsvorsprung Halt fand und – halb gezogen durch ihn – hinaufkletterte.
Es waren nur noch einige Zentimeter, die sie vom sicheren Boden trennten, als ihr Blick auf eine Gestalt fiel, die wenige Schritte hinter Edward entfernt auf dem Boden lag. Es war einer der Schmuggler. Er bewegte sich, hatte plötzlich eine Pistole in der Hand. Sophie wusste nicht, ob sie geladen war, sie dachte nicht lange nach, stieß einen warnenden Schrei aus, während sich ihre Finger gleichzeitig tief ins Gras gruben, ein Büschel samt dem Erdballen herauszogen, und sie es dem Mann ins Gesicht warf. Sie streifte nur seinen Kopf, er hob die Hand, zielte. Edward zerrte sie verzweifelt hoch, versuchte dabei zwischen ihr und die Waffe zu kommen, um sie zu decken. Er konnte Sophie nicht loslassen, sonst fiel sie, sondern musste versuchen, gleichzeitig die Kugel abzufangen und wenn möglich sogar zu überleben, und Sophie dabei hinauf und in Sicherheit zu zerren. Sie war gleich bei ihm. Nur noch wenige …
Der Schuss ging los. Sophie spürte, wie Edward sie mit beiden Händen gleichzeitig ergriff. Sie schrie auf, voller Angst, Edward könnte getroffen worden sein. Das letzte Stück schleuderte er sie mehr hinauf, als dass er sie zog, sprang auch schon auf und wollte sich auf den Schmuggler stürzen, als er stehen blieb.
Sophie
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