Süße Worte, heißes Flüstern
er im Vorüberfahren. Man stelle sich vor, hier wohnen zu müssen. Wenn man gefragt werden würde, woher man käme, müsste man antworten: aus Ridgewater, Texas, der Stadt mit dem monströsen Obstkuchen.
Er hatte die kaum belebte Hauptstraße fast passiert, als Seth in einem von einem weißen Lattenzaun umgebenen großen Vorgarten ein kleines Mädchen mit blonden Locken bemerkte, das wild mit den Armen fuchtelte, als riefe es um Hilfe. Er bremste ab und sah genauer hin. Im nächsten Augenblick hatte er den Grund für die Aufregung des Kindes entdeckt und erschrak.
Gut drei Meter über dem Boden hing scheinbar frei in der Luft ein anderes, etwa gleichaltriges Mädchen. Bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass es sich mit seiner Jeans im Ast des großen Baums verfangen hatte, der vor dem Haus stand. Panische Angst stand der Kleinen ins Gesicht geschrieben.
Seth reagierte sofort. Er gab Gas, zog die Maschine leicht hoch, um über den Kantstein zu kommen, und durchbrach den Lattenzaun. Ohne vollständig abgebremst zu haben, sprang er vom Motorrad, das noch ein Stück allein über den Rasen weiterfuhr, bevor es umstürzte. Noch während er auf den Baum zustürzte, riss er sich den Motorradhelm vom Kopf und begann dann, den Baum hochzuklettern. Bald hatte er die Astgabel erreicht, an deren einem Ende das Mädchen festhing.
“Halt durch”, rief er dem Kind leise zu, wobei er sich vorsichtig, aber so schnell es ging, auf dem Ast voranarbeitete.
Die Kleine drehte ihm den Kopf zu, als sie ihn in ihrer Nähe bemerkte. Seth hörte deutlich, dass dabei der Stoff ihrer Jeans weiter einriss.
Verdammt, dachte er, gleich ist es zu spät. “Du darfst dich nicht bewegen, nicht ein bisschen”, redete er in beruhigendem Ton auf das Mädchen ein, das ihn mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen anstarrte. “Ich bin gleich bei dir.” Zentimeter für Zentimeter robbte er vorsichtig näher.
“Maddie!”, hörte er von unten den entsetzten Aufschrei einer Frau.
Seth achtete nicht darauf. Er brauchte seine volle Konzentration. Er war jetzt knapp über der Kleinen, sodass er sie mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte. Er bekam sie am Hosenbund zu fassen und zog sie zu sich hoch.
“Sei ganz ruhig. Ich hab dich”, sagte er.
Sie sorgsam mit einem Arm festhaltend, kroch er langsam wieder zurück. Die junge Frau, die den Schreckensschrei ausgestoßen hatte, war inzwischen auch ein Stück weit den Stamm bis zur ersten großen Gabelung hinaufgeklettert. Sobald er nah genug war, reichte er ihr das furchtsam zitternde Kind hinunter.
“Mommy!”, rief das Mädchen und umarmte seine Mutter ängstlich.
In diesem Augenblick merkte Seth, der noch immer der Länge nach auf dem Ast lag, auf dem er zurückgeklettert war, dass das Holz unter seinem Gewicht nachgab. Es knackte vernehmlich. Er versuchte, woanders Halt zu finden. Doch im selben Moment krachte es, der Ast brach und riss ihn mit sich in die Tiefe. Schwarze Leere umfing Seth.
Hannah Michaels hatte das Unglück, vor dem ihre Tochter gerade noch bewahrt worden war, kommen sehen. Sie klammerte sich fest an den Baum, als sie den schweren Ast samt dem Retter ihres Kindes hinabstürzen sah. Als sie den dumpfen Aufprall hörte, hatte sie den Kopf abgewandt und die Augen instinktiv geschlossen. Maddie fest an sich gedrückt, kletterte sie nun zitternd Schritt für Schritt hinunter. Sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte, setzte sie ihre Tochter ab und eilte zu dem Fremden, der lang ausgestreckt auf dem Rasen lag.
Mein Gott, er ist tot, war ihr erster Gedanke. Sie legte die Hand unterhalb des kräftigen Kiefers an seinen Hals und stellte nun fest, dass sie seinen Pulsschlag deutlich und regelmäßig spüren konnte. Erleichtert atmete sie auf. Sie drehte sich zu ihrer Tochter um, die mit großen Augen noch immer unter dem Baum stand, der ihr beinahe zum Verhängnis geworden wäre.
“Madeline Nicole!”, rief sie ihr zu. “Du gehst augenblicklich zu Missy, und ihr beide rührt euch nicht vom Fleck.”
Maddie sah sie schuldbewusst an. Ihre Unterlippe zitterte. Dann wandte sie sich um und lief zu ihrer Schwester. Ohne sich zu bewegen, standen die beiden Hand in Hand da.
“Hannah”, kam jetzt eine Stimme vom Nachbargrundstück, “was ist denn los bei euch? Wieso liegt denn dieses Motorrad auf dem Rasen?” Es war Mrs Peterson, die ein Haus weiter wohnte. Sie stand auf ihrer Veranda und reckte den Hals, sichtlich bemüht, sich nichts entgehen zu lassen.
Über die
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