Süße Worte, heißes Flüstern
Frau durchprügelte, bis es ihm eines Tages zu viel geworden war und er dazwischengegangen war?
Aber obwohl ihm noch eine ganze Reihe weiterer unerfreulicher Möglichkeiten eingefallen war, hatte Seth es nicht über sich gebracht, den Brief zu der anderen unerledigten Post zurückzuwerfen und zu ignorieren. Er hatte sich einen Eisbeutel für seinen schmerzenden Schädel gemacht, sich einen doppelten Tequila eingeschenkt und den Brief genauer betrachtet, während er sich aufs Sofa gesetzt hatte.
‘Wolf River …’ Erst da hatte er richtig begriffen, was auf dem Absender stand: Wolf River County, Texas. Er hatte den Tequlia heruntergeschüttet, den Umschlag aufgerissen und gelesen.
Wir möchten Ihnen mitteilen, dass Ihre leiblichen Geschwister, Rand Zacharias Blackhawk und Elizabeth Marie Blackhawk, Sohn und Tochter des Jonathan und der Norah Blackhawk, wohnhaft gewesen in Wolf River County, Texas, bei besagtem Unfall, der Ihre Eltern das Leben kostete, nicht umgekommen, sondern beide noch am Leben sind
…
Seth hatte es mehrmals lesen müssen, bevor er verstanden hatte. Sein großer Bruder Rand und seine kleine Schwester Elizabeth, Lizzie, lebten noch! Der Rest des Briefs bestand aus allgemeinen Hinweisen im üblichen geschraubten Juristenjargon. Unter anderem war von einem Landbesitz die Rede. So weit sich Seth noch an seine frühe Kindheit erinnern konnte, hatten seine Eltern tatsächlich eine kleine Ranch gehabt. Aber viel konnte sie nicht wert sein.
Doch das spielte auch keine Rolle. Das Einzige, was zählte, war, dass Rand und Lizzie noch lebten. Die Telefonnummer der Kanzlei war angegeben, unter der er gebeten wurde, sich zu melden.
Die Nachricht hatte ihn total umgeworfen. Im ersten Augenblick hatte Seth gedacht, jemand erlaube sich einen schlechten Scherz mit ihm. Aber das war sehr unwahrscheinlich. So gut wie niemand kannte seine frühe Vergangenheit und wusste, dass er erst im Alter von sieben Jahren von Ben und Susan Granger adoptiert worden war, dass seine leiblichen Eltern Jonathan und Norah Blackhawk waren und dass er noch zwei Geschwister hatte. Seth selbst hatte große Mühe, sich an dieses frühere Leben zu erinnern.
Woran er sich jedoch genau erinnerte, war, dass ihm gesagt worden war, seine ganze restliche Familie sei bei dem schweren Autounfall getötet worden und er der einzige Überlebende. Und in diesem Glauben hatte er dreiundzwanzig Jahre lang gelebt.
Seth hatte lange auf dem Sofa gesessen und auf den Brief gestarrt. Erst als sich das erste Tageslicht hinter den Jalousien zeigte, war er aufgestanden, hatte die Nummer der Kanzlei gewählt und eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.
Als Stunden später der Rückruf gekommen war, hatte er Gewissheit gehabt. Rand und Lizzie lebten tatsächlich noch. Rand hatte man schon auftreiben können. Lizzies Aufenthalt war noch nicht bekannt, aber man war dabei, nach ihr zu forschen.
Nachdem man ihn eindringlich gebeten hatte, in die Anwaltskanzlei zu kommen, und er zugesagt hatte, hatte Seth erst einmal sechzehn Stunden durchgeschlafen. Dann hatte er das Notwendigste in seine Reisetasche geworfen, sich auf sein Motorrad geschwungen und war losgefahren. Dass er nach dem Abschluss seines letzten Falls für sechs Wochen vom Dienst freigestellt war, kam ihm dabei entgegen. Auf Frau und Kinder brauchte er keine Rücksicht zu nehmen. Er hatte sich schon lange für ein Leben ohne Bindungen und familiäre Verpflichtungen entschieden. Beziehungen konnten sich Leute leisten, die einen Schreibtischjob hatten, er nicht.
Mit einem Klick schaltete sich die Benzinzufuhr ab. Der Tank war voll. Seth, durch das Geräusch aus seinen Gedanken gerissen, hing die Zapfpistole wieder an die Säule und schraubte den Tankdeckel zu. Als er dann von der Kasse kam, grinste er einer älteren grauhaarigen Lady zu, die neben ihrem Ford stand, setzte seine Sonnenbrille auf und schwang sich auf seine Harley. Er wusste, dass alle ihm hinterherstarrten, und deshalb machte er sich erst recht einen Spaß daraus, mit Vollgas und röhrendem Motor zu starten.
Hohe Ulmen säumten die Hauptstraße, die ins Stadtzentrum führte. Dahinter reihten sich die Fassaden gediegener, viktorianischer Bürgerhäuser. Hin und wieder wies ein Schild auf das Gewerbe von einem dieser wohlsituierten Bürger hin: Antiquitätenhändler, Notar, Arzt. Aber auf jedem Schild entdeckte Seth in der unteren linken Ecke das Gleiche: den Obstkuchen, das Wahrzeichen dieser Stadt. Unglaublich, dachte
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