Süßer König Jesus (German Edition)
verstecken, äußerst praktisch, und deswegen schätzte ich diese Pflicht-Uniform. Unsere Mutter hatte eins in Größe L an, weit und sackartig hing es ihr über die Hüften. Unser Vater trug eines seiner bügelfreien Hemden von Brooks Brothers; das heutige Modell war grün-weiß gestreift. Seine Schwester schenkte ihm Gutscheine für Brooks Brothers, Gutscheine, die sie dafür erhielt, dass sie haufenweise Zeugs über ihre Kreditkarte anschaffte.
»Und was ist mit McDonald’s?«, fragte ich.
»Euer Vater wird doch McDonald’s nicht aufgeben«, versicherte unsere Mutter.
»Ich bin am liebsten morgens bei McDonald’s.«
»Das wissen wir, Jess«, sagte Elise. »Das wissen wir.« Sie fächerte sich Luft zu – mit einer Zeitschrift, auf deren Cover die Körper von Prominenten in Badeklamotten abgebildet waren, die Augen verdeckt von schwarzen Balken. Meine Eltern mochten weder die Musik, die Elise hörte, noch ihre Kleider, weder die Fernsehsendungen, die sie gern sah, noch die Zeitschriften, die sie las. Sie mochten die meisten ihrer Freunde nicht und schon gar nicht die Jungs, mit denen sie ausging. Früher hatten sie noch oft mit ihr darüber diskutiert, mit welchem Plan Gott ihr Leben belege, und unser Vater hatte gesagt, sie werde in die Hölle kommen, und dort wäre sie völlig allein – in der Hölle und VÖLLIG ALLEIN – im Moment allerdings ließen sie sie, solange sie den Anschein wahrte, so etwa tun und lassen, was sie wollte. Hauptsache, wir saßen mittwochs und samstags hübsch gekleidet in Reih und Glied in der Kirche.
Der Hauptunterschied zwischen Elise und mir war, dass ich log. Ich tat Dinge, die unsere Eltern nicht billigten, aber ich tat sie heimlich und leise. So leise hätte ich gar nicht sein müssen, denn Elise war dermaßen laut, dass man mich sowieso leicht überhörte. Ich hatte alle Folgen von Jersey Shore und 16 and Pregnant gesehen. Ich las, wenn Elise sie durchhatte, ihre Zeitschriften, und einmal hatte ich aus einer Dose Sprühsahne das Gas herausgesaugt und war etwa dreißig Sekunden lang high gewesen.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Elise.
Ich öffnete die Tür auf meiner Seite und rannte ihr nach. Hinter der getönten Scheibe eines Pick-ups saß ein Junge und beobachtete uns, in der Mitte des Armaturenbretts lag ein Cowboyhut, und auf der Ladefläche bellten uns zwei sich einander überstürzende Hunde an.
Die Türen glitten auseinander, und ein Strom kalter Luft hüllte uns ein.
Wir gingen direkt nach hinten zu den Toiletten, und ich blieb kurz vor der großen, blinkenden Waage stehen. Ich hatte mich, seit wir von zu Hause aufgebrochen waren, nicht mehr gewogen, aber alles gegessen, was mir unterkam. Ich beschloss, es nicht wissen zu wollen, und betrat eine Kabine mit vier Schlössern – drei davon defekt. Ich zog den obersten Riegel zu mir her, ging halb in die Hocke, während ich auf die Füße der Frau in der Kabine nebenan starrte. Sie waren breit und sonnengebräunt und die Zehennägel für ihre Zehen zu klein. Die hässlichsten Füße, die ich je gesehen hatte. Aber sie steckten in teuer wirkenden Sandalen. Die Nägel waren lackiert, und ich fand es toll, wie sie versuchte, das Beste aus ihnen zu machen.
Als ich die Tür öffnete, stand da ein Mädchen vor dem Spiegel und sang Family Tradition mit, das quer durch das ganze Gebäude gepumpt wurde. Ich wusch mir die Hände, während sie einzelne Strähnen aus ihrem Haar mit einer Riesendose Aerosol-Haarspray in unterschiedliche Formen legte. Sie trug schwarze, unten in ihre Lederboots gestopfte Jeans. Ihr Gesicht eine einzige Schliere aus Rosa und Violett. Wahrscheinlich war sie eine Prostituierte und würde demnächst in einer Feuerkugel auffahren, jetzt aber ging sie ihrem Geschäft nach und bauschte ihr Haar zu größtmöglicher Fülle auf. Ich zupfte mein eigenes Haar im Spiegel zurecht, fuhr mit den Fingern hindurch und klopfte es schließlich mit den Händen glatt. Ich verbrachte viel Zeit damit, mich selbst zu betrachten, ich wollte herausfinden, was in meinem Gesicht nicht stimmte.
Ich nahm mein Handy aus der Handtasche, drehte es in unterschiedliche Winkel, fand aber keine Möglichkeit, ein Foto zu machen, ohne dass sie es bemerkt hätte. Ich las eine Nachricht meiner Mutter, die ich längst gelesen hatte – American Idol fängt jetzt grade an!! –, und löschte sie.
Als Elise aus einer der Kabinen kam, erstarrte das Mädchen: eine Dose Haarspray reglos in der Luft. Meine Schwester lächelte das
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