Sueßer Tod
Sie?«
»Wie er sagt, ja. Nein, das ist unfair. Er sieht es wirklich so. Zusammen mit Patrice hat er gegen viele Torheiten hier gekämpft. Aber nach Patrices Tod hat auch er angefangen, mit dem Strom zu schwimmen und die Segel zu streichen –
hier haben Sie noch eine Auswahl meiner Klischees. Ich glaube, er kann Patrice nicht verzeihen, daß sie ihn verlassen hat.«
»Und er glaubt, sie hat es getan – ihn verlassen, meine ich – sich umgebracht?«
»So wie die Dinge sich hier entwickeln, glaubt er allmählich, daß sie das Richtige getan hat. Das ist natürlich ein wenig übertrieben, aber er ist ziemlich deprimiert von dem Leben an diesem College. Wenn Patrice noch da wäre«, fügte Lucy hinzu, während sie aufstand, um die Gläser nachzufüllen, »hätte sie nicht zugelassen, daß wir so in Düsternis versinken. Sie hatte die Fähigkeit, andere zu inspirieren, ihnen Mut zu machen. Und ich glaube, all diese Gerüchte über ihren Tod sind nur entstanden, weil einfach niemand glauben will, daß sie uns so im Stich gelassen hätte.«
»Halten Sie es denn für möglich?«
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»Vielleicht. In Momenten von Mutlosigkeit und Trübsinn. Ich tröstete sie manchmal, und sie mich, obwohl wir selten genug miteinander redeten. Es gab natürlich eine Zeit, wo ich eifersüchtig auf sie war, aber das ging vorüber.«
»Als sie älter wurde?«
»Ja«, sagte Lucy. »Als sie älter wurde und ich lernte, unkonventioneller zu sein in meiner Liebe. Und Patrice hatte wirklich die großartige Gabe, die mittleren Jahre in die herrlichste Zeit des Lebens zu verwandeln. In ein Abenteuer. Ich begann, von dem Augenblick zu träumen, wo die Kinder aus dem Haus gingen, meine Haare grau wären und meine Schuhe flach. Sie lebte einem vor, daß es nicht nötig war, sich in den Traum ewiger Jugend einzukaufen. Einmal sagte sie zu mir –
ich werde es nie vergessen, denn im ersten Moment kam es mir fürchterlich bizarr vor – sie sagte, sie könne sich kaum noch an die Zeit erinnern, als ihre Kinder klein waren. Damals habe sie wie in Trance gelebt. Aber jetzt, so sagte sie, wo ihre Kinder erwachsen wären, schätze sie sie sehr. Sie seien Freunde, denen man nichts über die Vergangenheit erklären müsse. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, erzählte sie mir einmal, hätten sie und ihr Mann oft abends zusammen gesessen, gelesen oder sich unterhalten, und sie habe das Gefühl gehabt, er und sie seien in einem Satz von ihrer Jugend zu diesem Moment in den mittleren Jahren gehüpft.
Die Zeit dazwischen sei ihr wie ein Stück vorgekommen, in dem jemand anderer gespielt habe, das jemand anderes geschrieben habe. O Gott, Kate, ich vermisse sie jeden Tag. Und Bertie vermißt sie genauso. Und ich hasse die Vorstellung, daß keine Krankheit, kein Unfall oder ein Verbrechen sie uns genommen hat, sondern ihr eigener Entschluß, ihre eigene Verzweiflung. Ich verstehe sie, aber ich werde ihr niemals verzeihen. Nie.«
Kate ging zu Fuß zu Ted Geddes’ Haus am See. Sie widerstand der in kleineren Städten üblichen Unart, auch für den kleinsten Weg ins Auto zu steigen. Natürlich hätte sie um den Campus herumfahren und von der Straßenseite aus zum Geddesschen Haus gelangen können. Sie war sich zwar etwas exzentrisch vorgekommen, hatte aber Lucys Angebot, sie zu fahren, abgelehnt. Zu Fuß machte sie sich auf den Weg vom Village zum Campus, dann zum See und fast halb um den See herum bis zum Ufersteg hinter dem Geddesschen Haus. Sie blieb eine Weile auf dem schmalen Steg stehen, blickte über das Wasser und sinnierte, was wohl unvermeidlich war, über Patrices mitternächtliches Hinausschwimmen.
Einige Teile von Patrices Tagebuch würde sie noch gründlich lesen und mit vielen Leuten sprechen müssen. Aber trotzdem fühlte sie, daß sie an einem jener Wendepunkte stand, die überall existierten, angefangen vom griechischen Drama bis hin zu Cocktailparties, wo man plötzlich genau weiß, wie alles ausgehen wird, obwohl man noch nicht alle Fakten beisammen hat. An welchem Punkt wußte Ödipus, wer der Mann an dem Kreuzweg war, den er getötet hatte? Als lokaste sich erhängte, oder schon davor? Kate wußte natürlich, daß die meisten Wendepunkte erst im nachhinein als solche erkannt werden, dann, wenn der entscheidende 88
fehlende Fakt ans Tageslicht gekommen ist. Die Psychoanalyse arbeitete wohl auf die gleiche Weise. So »wußte« Freud zum Beispiel an einem bestimmten Punkt, daß seine Patienten zum Zeugen der Urszene geworden waren.
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