Sueßer Tod
meine.«
»Ja, das weiß ich«, sagte Kate. »Aber ich brauche Ihre Hilfe. Ich frage mich gerade, ob es in jedem Leben so viele Dramen gibt wie in Patrices. Ihr Mann kam bei einem Raubüberfall ums Leben; gegen sie wurde ein Prozeß geführt; sie war Bestseller-Autorin und wurde von allen Leuten hier gehaßt, die eine Attacke auf ihre Ideologien fürchteten. Daneben hatte sie schließlich noch ihren Beruf, ihre Familie, ihre Freunde – ihren Alltag. Ihr Leben war auch in all diesen Bereichen wohl sehr ausgefüllt. Führte Patrice vielleicht, was ein Freund von mir, ein Anhänger weidischer Religionen, eine Karmaexistenz nennt?«
Lucy lachte. Trotz ihrer Zartheit hatte sie ein kräftiges Lachen und eine warmherzige Art und schien sich selbst keineswegs als empfindliches, zerbrechliches Wesen zu empfinden, obwohl sie so wirkte. »Haben Sie je versucht, jemandem Ihr Leben zu erzählen, oder sagen wir, nur ein paar ausgewählte 84
Ereignisse? Es ist wirklich erstaunlich – wenn man nur bereit ist zu leben, dann geschieht das Leben auch.«
»Ja«, sagte Kate. »Ich verstehe, was Sie meinen. Vor kurzem ist mir klar geworden, wie wenig ich über Patrices Ehe weiß. Kannten Sie ihren Mann? Kannte ihn irgend jemand? Erst auf dem Flug hierher fiel mir auf, daß ich nicht einmal mit Patrices Tochter über ihn gesprochen habe. Eigenartig, nicht wahr?«
»Über Ehen«, sagte Lucy, »können wir nur Vermutungen anstellen. Ich hatte oft das Gefühl, Patrice und ihr Mann waren wie Vulkane – ohne Vorwarnung konnte es zu einem Ausbruch kommen – und dann, wenn sie Feuer und Asche versprüht hatten, sprachen sie mit niemandem über die Ursache.«
»Ich mag die Art, wie Sie reden«, sagte Kate.
»Wirklich? Bertie sagt, bei gewissen Leuten stünde ich in dem Ruf großer Weisheit, weil ich das Klischee wiederentdeckt hätte. Und er hat nicht ganz unrecht. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, daß Intellektuelle am stärksten beeindruckt sind, wenn man sich an das Offensichtliche hält und nicht vergißt, es von Zeit zu Zeit laut zu verkünden. Aber zurück zu Patrice. Bertie hat mir erzählt, daß er und Patrice selten über ihre Ehen sprachen, und ich glaube ihm. Ich denke, das ist charakteristisch für eine lange Freundschaft zwischen einem verheirateten Mann und einer verheirateten Frau. Ich kann Ihnen also nur mit meinen eigenen Beobachtungen dienen, gewürzt mit ein paar hübschen Projektionen aus meiner eigenen Erfahrung. Okay?«
»Okay«, sagte Kate, die ihre Freude an Lucy hatte.
»Ich glaube, sie führten das, was man eine gute Ehe nennt. Soll heißen: sie vertrauten einander und jeder glaubte an die Vernunft und das gesunde Urteil des anderen. Aber ich habe den Verdacht, ihre Ehe ging den Weg so vieler Ehen ihrer Sphären: er hatte sich abgewöhnt, mit anderen Menschen zu sprechen. Und sie hatte Frauenfreundschaften entdeckt, zusätzlich zu den Männerfreundschaften wie der mit Bertie. Und auch sie sprach sich nicht mehr bei ihm aus. Damit will ich nicht sagen, daß sie Geheimnisse voreinander hatten. Es ist nur so: wenn man mit einer Freundin lang und ausführlich über die Gefahren reiner Männercolleges oder die Unwägbarkeiten reiner Frauencolleges gesprochen hat, macht es schließlich nicht viel Sinn, das Ganze zu Hause noch einmal zu wiederholen. Da ist es doch viel einfacher, über das Abendessen zu reden oder sich vom Ehemann das Neueste aus seinem Beruf erzählen zu lassen. Im Falle von Patrices Ehemann war das die Juristerei, und er konnte sehr interessant darüber erzählen. Ich habe ihm oft zugehört.«
»Sie hat also nicht gelitten, als er starb?«
»Natürlich. Es brach ihr das Herz, und sie wütete gegen die ganze Welt, die ihn so sinnlos getötet hatte. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Vielleicht litt sie wirklich nicht so sehr. Und ganz bestimmt hielt sie nicht Ausschau nach einem anderen Mann – wie so viele andere Frauen in den Fünfzigern, die entweder einen 85
finden oder sich für den Rest ihres Lebens nach einem verzehren. Ich glaube, in gewisser Weise hatte Patrice schon sehr lange allein gelebt. Und nachdem der erste Schrecken und die tiefste Trauer überwunden waren, wußte sie, daß sie es auch allein schaffen würde. Und noch mehr: eigentlich darf man so etwas zwar nicht einmal denken, aber auch in all diesen schrecklichen Erlebnissen sah Patrice die Chance neuer intensiver Erfahrung. Erinnern Sie sich an Arthur Koestlers Selbstmord? Über fünfundsiebzig war er und litt an
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