Süßer Tod
deutliche Veränderung in seinem Äußeren auf. Früher hatte er das Haar fast militärisch kurz geschnitten. Jetzt hing es ihm bis auf den Kragen und über die Ohren und bedeckte seitlich den Bart. Sie entdeckte ein paar graue Haare in den dunklen Wellen.
Er hielt die Wasserflasche vor ihr Gesicht.
»Sie müssen mich erst losbinden.«
»Sie machen Witze.«
»Ich kann doch nicht …«
»Sind Sie durstig oder nicht?« Er drückte die Öffnung der Plastikflasche an ihre Lippen. Sie gab sich geschlagen und trank in großen Schlucken, bis ihr Mund voll Wasser war. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, um ihm anzuzeigen, dass sie fertig war.
Er nahm die Flasche weg, allerdings nicht schnell genug. Das Wasser rann ihr übers Kinn und tropfte ihr auf die Brust. Etwas spritzte auch aus der Flasche auf ihren nackten Schenkel. Sie blickte nach unten und sah, wie die Tropfen auf ihrer Haut perlten.
Als sie wieder aufsah, merkte sie, dass er auf dieselbe Stelle starrte. Dann schaute er ihr wieder ins Gesicht.
Er bewegte sich so schnell, dass sie zusammenschreckte. »Kriegen Sie sich ein!«, knurrte er. »Ich werde Ihnen nicht wehtun.«
»Das haben Sie schon getan.«
Er fasste wieder an ihren Hinterkopf, fuhr mit den Fingern in ihr Haar und strich dann behutsam über ihre Kopfhaut, bis sie das Gesicht verzog. »Sie haben da ein ordentliches Ei.«
»Was haben Sie denn erwartet?«
»Dass Sie da ein ordentliches Ei haben. Weil Sie nicht getan haben, worum ich Sie gebeten habe. Wären Sie still geblieben und hätten kooperiert, hätte ich Sie nicht k. o. schlagen müssen.«
Sie wollte schon erwidern, dass sie das im Gedächtnis behalten würde, falls mal wieder ein Entführer in ihr Haus eindrang und sie mitten in der Nacht aus dem Bett zerrte. Aber sie verkniff sich die Bemerkung.
Es war bestimmt kein Zufall, dass Raley Gannon sie entführt hatte, nachdem sie zwei Tage zuvor neben dem toten Jay Burgess aufgewacht war. Sie wusste nicht genau, was die beiden Ereignisse miteinander zu tun hatten, aber es gab ganz sicher einen Zusammenhang, und diese Vorstellung war beängstigend.
Er verschwand in dem dunklen Zimmer. Nebenan ging ein Licht an. Sie hörte ihn herumkramen, Türen öffnen und schließen, dann kehrte er mit einem Pillenfläschchen zurück. Er schüttelte zwei Tabletten heraus und hielt sie ihr hin. »Nehmen Sie die.«
»Was ist das?«
»Ibuprofen.« Er drehte die Flasche, damit sie den Aufkleber lesen konnte. »Ein Generikum.«
»Die nehme ich bestimmt nicht.«
»Wieso nicht? Haben Sie Angst, ich könnte Ihnen eine Vergewaltigungsdroge unterjubeln?«
Sie sah ihm ins Gesicht, das sich seit ihrer letzten Begegnung unübersehbar verändert hatte. Das zeigten nicht nur die grauen
Haare hier und da. Die Haut war sonnenverbrannt. Sein Bart war schwarz wie der eines Piraten und verdeckte die Lippen, die bestimmt schmal waren und selten lächelten.
Am deutlichsten waren jedoch seine Augen gealtert. Nicht nur, dass von den Augenwinkeln tiefe Falten ausstrahlten, die Iris selbst wirkte verhärtet und erkaltet, so als wäre ein früher friedlich grüner Sommerteich vereist.
Vielleicht waren seine Augen aber auch schon immer so kalt gewesen. Schließlich hatte sie ihn nur wenige Male gesehen und immer aus einiger Entfernung, wenn er vor den Reportern geflohen war. Ehrlich gesagt kannte sie ihn nur als verschwommene Gestalt, die vor den Kameras flüchtete, als Schlüsselfigur einer heißen Story.
Falls er auf Vergeltung aus war, wollte sie die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Warum haben Sie mich hergebracht?«
»Raten Sie mal.«
»Wegen Jay Burgess.«
»Sie haben den Jackpot geknackt!«
Also hatte Jays Tod diesen… Wahnsinn ausgelöst. Jays Tod hatte Raley Gannon aus dem Bau gelockt. Vor fünf Jahren war er aus Charleston verschwunden, seither hatte niemand mehr von ihm gehört. Wenigstens niemand in ihrem Bekanntenkreis.
Möglicherweise war Jay mit ihm in Verbindung geblieben. Allerdings hatte Jay ihn nie erwähnt, und sie wäre nie auf die Idee gekommen, ihn nach Raley Gannon zu fragen. Nachdem Gannon für keine Schlagzeile mehr gut gewesen war, hatte sie ihn aus dem Gedächtnis gestrichen.
Er balancierte die Tabletten auf der flachen Hand. »Es wird eine lange und ungemütliche Nacht werden. Nehmen Sie die Pillen.«
Sie zögerte nur eine Sekunde und öffnete dann den Mund.
»Ich lasse mich doch nicht von Ihnen beißen. Strecken Sie die Zunge raus.«
Sie gehorchte. Er legte die
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