Süßer Tod
Leute …«
»Haben Sie am Eingang gefragt, ob Jay schon da ist?«
»An dem Pult am Eingang stand niemand. Ich habe doch schon gesagt, dass ich ihn gleich gesehen habe.«
»Sie haben also niemanden darauf hingewiesen, dass Sie angekommen waren?«
»Nein.«
»Hat Sie jemand angesprochen?«
»Nein.«
»Wurde irgendwer auf Sie aufmerksam?«
»Nein.«
Er sah ihr tief in die Augen und ließ den Blick anschließend langsam zu ihrem Brustkorb und danach noch tiefer bis zu ihren nackten Schenkeln wandern. Dort ließ er ihn betont lange ruhen, bevor er ihr wieder ins Gesicht sah und damit wortlos zum Ausdruck brachte, wie schwer es ihm fiel, ihr zu glauben, dass niemand auf sie aufmerksam geworden war.
Sie wand sich unter seinem Blick. »Hören Sie, ich habe das bei der Polizei oft genug durchgekaut. Es ist nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Gar nichts.«
»Sie sind jeden Tag im Fernsehen zu sehen. Trotzdem soll Sie niemand erkannt haben? Sie hatten mit niemandem Blickkontakt außer mit Jay?«
Sie schloss die Augen, als wollte sie sich die Szene wieder ins Gedächtnis rufen und sich eine weitere Erinnerung abpressen. »Ich glaube, vielleicht … vielleicht…« Sie schlug die Augen auf und schnaufte frustriert. »Möglicherweise hatte ich mit einem
Mann an der Bar Blickkontakt, aber ich weiß nicht mehr, ob das eine Erinnerung oder nur Einbildung ist.«
»Vielleicht kommt Ihre Erinnerung ja wieder, wenn Sie sich nicht so angestrengt darauf konzentrieren.« Er sah sie ein paar Sekunden scharf an und sagte dann leise: »Es sei denn, die Geschichte mit Ihrem Gedächtnisverlust ist erstunken und erlogen, und Sie erinnern sich ganz genau.«
Wären ihre Füße nicht festgebunden gewesen, wäre sie wahrscheinlich aus dem Stuhl gesprungen und hätte sich auf ihn gehechtet. Ihr Gesicht lief vor Wut so knallrot an, dass es ihn nicht überrascht hätte, wenn sie ihn trotz ihrer Fesseln angegriffen hätte. »Und warum sollte ich einen Gedächtnisverlust vortäuschen, Mr Gannon?«
»Also, ein guter Grund wäre beispielsweise, dass Sie neben einem Toten aufgewacht sind und jetzt Ihren Arsch retten wollen.«
»Ich habe nichts mit Jays Tod zu tun.«
»Sagen wir mal, der Sex war wilder oder ausgefallener, als gut für ihn war.«
»Sagen wir aber nicht.«
»Und ehe Sie sich versehen, liegt Ihr Liebhaber reglos da. Vielleicht hatten Sie auch einen kleinen Zank unter Liebenden, der irgendwann hässlich wurde.«
»Wir haben nicht …«
»Vielleicht hatte Jay einen Herzstillstand, Sie sind völlig ausgeflippt und haben es versäumt, ihm zu helfen. Alles ist möglich. Sie beide hatten eine Flasche Scotch intus – das stand auch in der Zeitung –, und vielleicht ist Scotch einfach nicht Ihr Getränk. Möglicherweise macht der Scotch Sie wild, ausfallend, gewalttätig. Sie…«
»Nichts davon ist passiert!«
»Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie sich an nichts erinnern?«
»Ich würde mich bestimmt erinnern, wenn ich einen Mann getötet hätte, selbst wenn ich es unabsichtlich getan hätte.«
»Sicher?«
Sein ironischer Tonfall machte sie noch wütender. »Ich habe die Nase voll von diesem Quatsch. Und von Ihnen. Machen Sie sofort das Klebeband ab!«, schrie sie ihn an.
»Sie können kreischen, so viel Sie wollen, hier hört Sie niemand, Sie schaden damit nur Ihrem Goldkehlchen. Das möchten Sie doch bestimmt nicht.«
Blitze schlugen aus den blauen Augen. »Dafür bringe ich Sie ins Gefängnis. Ich kann es kaum erwarten, über Ihre Verhandlung zu berichten. Und wenn Sie eingesperrt werden, stehe ich mit einer Kamera und einem Mikrofon am Gefängnistor.«
»Wissen Sie, wie Jay gestorben ist?«
»Nein!«
»Haben Sie ihn umgebracht?«
»Nein!«
»Haben Sie ihn gefickt?«
S eine vulgäre Frage schockierte sie so, dass ihre Wut für einen Moment verflog.
»Wie bitte?«
»Soll ich es Ihnen buchstabieren?«
Sie wandte den Blick ab und sah dann zu Boden. »Ich muss auf die Toilette.«
Die Grobheit war beabsichtigt gewesen und hatte ihren Zweck erfüllt. Manchmal schlug Zorn in Verbohrtheit um. Falls sie aus reinem Trotz kein Wort mehr mit ihm redete, hatte er gar nichts erreicht.
Jetzt hatte er sie vorübergehend gebändigt und konnte sich großzügig zeigen. Wenigstens etwas. Er ging vor ihr in die Hocke, schnitt mit dem Taschenmesser das Klebeband um ihre Fußknöchel auf und zog es ab.
»Danke.« Sie versuchte aufzustehen, sackte aber auf den Stuhl zurück. »Mir sind die Füße eingeschlafen.«
Er nahm
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