Süßer Tod
allerdings nicht mit ihrem aufrichtig wirkenden Blick täuschen. Er war immun. Offenbar hatte sie das gespürt, denn sie gab als Erste nach. Sie brach zwar nicht den Blickkontakt ab, aber sie holte kurz hörbar Luft. »Ich kam … Nein, lassen Sie mich vorher anfangen. Jay wollte sich mit mir im Wheelhouse treffen.«
Sie erzählte ihm, dass Jay sie am selben Tag angerufen und sich mit ihr verabredet hätte, weil er angeblich etwas mit ihr zu bereden hatte. »Was das war, hat er nicht gesagt. Nur dass es wichtig sei.«
Sie sprach emotionslos, fast mechanisch. Wahrscheinlich hatte sie diesen Text schon Dutzende Male bei der Polizei aufgesagt.
»Er hörte sich nicht so an, als würde er was von mir wollen«,
fuhr sie fort. »Ich hatte ihn seit Monaten nicht gesehen. Auch nicht mit ihm telefoniert. Wir hatten lange überhaupt keinen Kontakt gehabt. Ich sagte: ›Natürlich, aber gern.‹ Er schlug sieben Uhr vor. Ich kam pünktlich auf die Minute.« Sie machte eine kurze Pause und fragte dann: »Waren Sie schon mal im Wheelhouse?«
»Heute Abend.«
»Heute Abend? Sie haben noch schnell ein Bier getrunken, bevor Sie in mein Haus eingebrochen sind und mich entführt haben? Wobei ich mir durchaus vorstellen kann, dass das Schwerverbrecherleben durstig macht.«
Ohne auf ihre Spitze einzugehen, erklärte er: »Als ich aus Charleston weggezogen bin, gab es das Wheelhouse noch nicht, darum kannte ich es nicht. Ich wollte mir den Laden ansehen.«
»Warum?«
»An welchem Tisch haben Sie gesessen?«
»In der hintersten Ecke.«
»Vom Eingang aus rechts? Am Fenster?«
Sie schüttelte den Kopf. »Links.«
»Okay.«
Während er das Bild in seinem Kopf heraufbeschwor, fragte sie: »Woher haben Sie gewusst, wo ich wohne?«
»Ich bin Ihnen nachgefahren.«
»Heute?«
»Vor fünf Jahren.«
Er konnte sehen, dass ihr das unangenehm war. Sie rutschte kurz auf ihrem Sitz herum, sagte aber nichts dazu.
»Ich bin davon ausgegangen, dass Sie eine Alarmanlage haben«, fuhr er fort. »Und ich habe mir überlegt, dass Sie Ihr Haus wahrscheinlich meistens durch die Hintertür und die Küche betreten, weshalb der Alarm dort wahrscheinlich mit Verzögerung ausgelöst wird. Also habe ich das Schloss an der Hintertür geknackt.«
»Wieso können Sie Schlösser knacken?«
»Die Alarmanlage begann zu piepsen. Ich habe darauf gesetzt,
dass mir mindestens anderthalb Minuten bleiben würden, bevor der Alarm ausgelöst wird. Die meisten Menschen stellen die Zeitspanne sogar noch länger ein, aber sicherheitshalber bin ich davon ausgegangen, dass ich neunzig Sekunden Zeit hatte, um Sie zum Eingeben des Codes zu bringen. Außerdem habe ich gehofft, dass eine Singlefrau wie Sie eine Fernbedienung neben dem Bett liegen hat.«
»Woher wussten Sie, dass ich Single bin?«
»Jay hat sich nie an verheiratete Frauen rangemacht.«
Sie ging nicht darauf ein, sondern sagte: »Neunzig Sekunden, in denen Sie mein Schlafzimmer finden und mich zwingen mussten, den Alarm abzustellen. Das ist knapp bemessen. Sie waren wirklich überzeugt, dass ich mitspielen würde.«
»Ich habe darauf gezählt, dass Sie Angst hätten.«
»Hatte ich auch. Todesangst.«
»Also lag ich mit meiner Vermutung richtig.«
»Und wenn ich keine Angst gehabt hätte?«, fragte sie. »Wenn ich neben meinem Bett keine Fernbedienung, sondern eine Pistole liegen gehabt hätte? Ich hätte Sie umbringen können.«
Er sah sich vielsagend in seiner Hütte um und sie dann wieder an. »Ich habe nicht viel zu verlieren.«
Das bereitete ihr sichtliches Unbehagen. Sie wich seinem Blick kurz aus, aber dann sah sie ihn wieder an. »Können Sie nicht wenigstens meine Füße losmachen? Nur die Füße?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie sind ganz taub.«
»In der Zeitung stand«, sagte er, »dass im Wheelhouse an diesem Abend Hochbetrieb herrschte.«
Nach einer trotzigen Pause, die ihn kein bisschen beirrte, begann sie den üblichen Barbetrieb während der Happy Hour zu beschreiben. »Es war gesteckt voll, aber ich sah Jay sofort, als ich in die Bar kam. Ich ging …«
»Moment. Standen Leute an der Bar? Dort habe ich heute gesessen. Es gibt über zwanzig Barhocker dort.«
»Die Gäste drängten sich in Grüppchen hinter den Hockern.«
»Wie viele Barkeeper?«
»Habe ich nicht gezählt.«
»Wie viele Kellnerinnen?«
»Ein paar. Mehrere. Vier, fünf, sechs. Keine Ahnung.«
»Aber alle hatten zu tun.«
»Alle Hände voll. Alle redeten durcheinander, es lief Musik, die
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