Suesses Gift Der Liebe
Erfahrung nach wurden Menschen, die durch Gift zu Tode kamen, sehr krank, ehe sie starben. Auch dabei gab es natürlich immer Ausnahmen. Eine lang anhaltende, mäßige Beigabe von Arsen führte meist zu keinem so dramatischen Endergebnis.
Es lagen freilich keine Anzeichen vor, dass Lord Fairburn vor seinem Tod an Anfällen von Unwohlsein gelitten hätte. Sein Tod konnte ebenso als Folge eines Schlaganfalls oder einer Herzattacke eingetreten sein. Die meisten Familien, die wie die Fairburns gehobenen Kreisen angehörten, hätten eine solche Diagnose vorgezogen und das öffentliche Aufsehen vermieden, das Ermittlungen in einem Mordfall unweigerlich mit sich brachten. Sie fragte sich, was Hamilton Fairburn bewogen haben mochte, Scotland Yard einzuschalten. Sicher war er auf etwas gestoßen, das seinen Verdacht geweckt hatte.
Sie konzentrierte sich kurz auf visuelle Hinweise, doch verrieten ihr diese wenig. Die Haut des Toten hatte eine ausgeprägt
aschgraue Färbung angenommen. Seine offenen Augen starrten ins Leere, die Lippen waren zu einem letzten Seufzer geöffnet. Sie registrierte, dass er mindestens zwanzig Jahre älter als seine Frau sein musste. Kein ungewöhnlicher Umstand, wenn ein begüterter Witwer sich wieder vermählte.
Routiniert streifte sie ihre dünnen Lederhandschuhe ab. Es war nicht immer nötig, den Toten zu berühren, doch erleichterte es der direkte körperliche Kontakt, Nuancen von Energie aufzuspüren, die ihr andernfalls entgangen wären.
Wieder war schockiertes Luftschnappen von Lady Fairburn und Hannah Rathbone zu vernehmen. Hamilton kniff die Lippen zusammen. Sie wusste, dass alle den Ring an ihrem Finger gesehen hatten, den Ring, von dem die Sensationspresse behauptet hatte, er hätte als Versteck für das Gift gedient, das ihren Verlobten tötete.
Sie beugte sich vor und strich mit den Fingerspitzen leicht über die Stirn des Toten, während sie zugleich ihre Sinne weit öffnete.
Sofort erfuhr die Atmosphäre des Raumes eine subtile Veränderung. Die Düfte, die dem großen Gefäß mit dem Blumenpotpourri entströmten, überfluteten sie wie eine schwere Woge, ein Gemisch aus getrockneten Geranien, Rosenblättern, Gewürznelken, Orangenschalen, Piment und Veilchen.
Die Farbtöne der Rosen in den zwei hohen, edlen Vasen leuchteten intensiver und zeigten fremdartige, nicht zu benennende Schattierungen. Die Blütenblätter waren noch frisch und samtig, doch war der unverkennbare Geruch der Verwesung deutlich spürbar. Einen Raum mit Schnittblumen
zu schmücken, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, da deren Schönheit sehr vergänglich war und sie sich im Zustand des Absterbens befanden. Ein Friedhof war der einzig passende Ort für sie. Wenn man die Kraft einer Pflanze, sei es Blume oder Heilkraut, bewahren will, muss man sie trocknen, dachte sie unwillig.
Der kläglich aussehende, mit einer feuchten Schicht überzogene Farn hinter der Glasfront des Terrariums lag in den letzten Zügen. Sie bezweifelte, ob der erlesene zarte Trichomanes speciosum den Monat überleben würde. Sie verdrängte das Verlangen, ihn zu retten. Es gibt kaum einen Salon im ganzen Land, der sich nicht eines Farnes rühmen kann, dachte sie. Man konnte nicht alle retten. Diese Farn-Manie grassierte seit einigen Jahren. Sie hatte sogar einen eigenen Namen - Pteridomania.
Mit einer durch viel Übung erworbenen Leichtigkeit unterdrückte sie die ablenkenden Energien und Farben der Pflanzen im Raum und konzentrierte sich auf den Leichnam. Ein schwacher Rückstand ungesunder Energie streifte ihre Sinne. Dank ihrer Gabe konnte sie fast jede Art von Gift aufspüren, da die Energien toxischer Substanzen die Atmosphäre auf verschiedene Weise durchdrangen. Doch Lucindas wahre Stärke lag auf dem Gebiet jener Gifte, die dem Reich der Botanik entstammten.
Sie wusste sofort, dass Spellar mit seiner Vermutung recht gehabt hatte. Fairburn hatte Gift zu sich genommen. Aber das Verblüffende waren die schwachen Spuren einer gewissen, sehr seltenen Farn-Gattung. Kalte Panik durchströmte sie.
Sie ließ sich mit dem Toten einen oder zwei Augenblicke
länger Zeit als nötig und gab vor, sich auf ihre Analyse zu konzentrieren. In Wahrheit aber nutzte sie die Zeit, um wieder zu Atem zu kommen und ihre Nerven zu beruhigen. Ganz ruhig. Keine Emotionen zeigen .
Als sie sicher sein konnte, dass sie sich wieder unter Kontrolle hatte, richtete sie sich auf und blickte Spellar an.
»Sie haben mit ihrem Verdacht recht, Sir«, sagte sie in
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