Summer Sisters
Polly standen vor ihr, als hätte sie die beiden als Traumbild heraufbeschworen.
Aber sie waren echt und sie hielten beide etwas in den Händen. Ama hatte ein Foto von Finn dabei: Es zeigte ihn an Halloween als Han Solo verkleidet, umringt von Polly, Ama und ihr in Ewoks-Kostümen.
Polly hatte das Bild eines Baums mitgebracht, das sie gezeichnet hatte. Jo war voller Bewunderung darüber, wie sie die Wurzeln und Äste gemalt hatte, so zart und kunstvoll wie ein Spinnennetz.
Behutsam lehnten die beiden ihre Gaben an Finns Grabstein, dann setzten sie sich rechts und links neben Jo. Polly nahm ihre Hand.
Jo ließ den Kopf auf ihre Arme sinken und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ihre Freundinnen hatten daran gedacht. Sie hatte sie nicht daran erinnern müssen, dass heute der Tag war, an dem Finn starb.
Ama legte den Arm um ihre Schultern und Polly strich ihr sanft über die Haare. Jo fühlte sich bei ihnen sicher genug, um zu weinen.
Sie hatte ihnen nicht zeigen müssen, wie sie ihre Freundschaft wiederfinden könnten. Wieder einmal hatten sie es bereits gewusst.
Ohne dass sie darüber gesprochen hatten, schlugen sie den vertrauten Weg über den East-West Highway zum 7-Eleven ein. Sie hatten sich untergehakt, und Ama war so glücklich, dass sie am liebsten laut gelacht hätte.
Als sie in den Laden stolzierten, fühlten sie sich so viel erwachsener und reifer als früher - jetzt wo sie Abenteuer überstanden, Enttäuschungen erlebt und große Pläne geschmiedet hatten -, aber sie kauften trotzdem Eis, Chips und Schokoriegel.
Wie früher gingen sie zum Pony Hill und rannten ihn johlend hinunter, begannen am Fuß des Hügels zu stolpern und taumelten mit rudernden Armen weiter.
Als sie zögernd den Wald betraten, hätte Ama am liebsten die Luft angehalten. Wahrscheinlich ging es den anderen beiden genauso.
Mehr als zwei Jahre waren vergangen, und sie fürchtete sich vor dem, was sie vielleicht gleich zu sehen bekommen würden. Waren die Bäume eingegangen? Waren sie gestorben, weil niemand mit ihnen geredet hatte? Weil keiner sie gegossen oder gedüngt oder ihnen etwas vorgegeigt hatte?
Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto unerträglicher wurde Amas Angst und Anspannung, bis sie schließlich zu der Stelle kamen, wo sie die Bäumchen damals eingepflanzt hatten.
Nirgendwo standen drei kleine Bäume. Sie sahen sich verdutzt um. Wo waren die Weiden?
»Schaut doch mal«, sagte Polly plötzlich.
»Das können nicht unsere sein«, flüsterte Jo atemlos. »Die sind viel zu groß.«
»Seht doch mal genau hin«, sagte Polly.
Tatsächlich. Die drei Stämme standen unverkennbar in einer Reihe.
Ama näherte sich ihnen langsam und ehrfürchtig und berührte vorsichtig die Rinde, die sie noch als dünne Haut gekannt hatte.
»Stimmt. Das sind sie. Das sind unsere Weiden. Schaut doch nur die Blätter an. Ich bin mir ganz sicher.«
Sie trat einen Schritt zurück, erfüllt von dem Gefühl, fast so etwas wie ein Wunder zu bestaunen. Auch Jo und Polly gingen ein Stück zurück und legten die Köpfe in den Nacken. Lange standen sie so da und sahen zu dem Baldachin aus silberngrünen Blättern über ihnen.
Ama fand es unglaublich, wie die drei Bäume zusammengewachsen waren, wie sich ihre Äste und Blätter ineinander geschlungen hatten und trotzdem jeder dem anderen genug Raum zum Wachsen ließ. Sie stellte sich vor, dass es die Wurzeln in der Erde genauso machten. Die Weiden waren immer noch zu dritt, aber jetzt waren sie auch Teil des großen Waldes geworden.
Die Bäume waren kräftig und wollten wachsen. Sie wuchsen und wuchsen, auch wenn sich niemand um sie kümmerte.
Als sie den Wald verließen, brauchte es keine von ihnen auszusprechen, und doch wussten es alle drei.
Sie hatten ihre Freundschaft auf die Probe gestellt und an ihr gezweifelt. Sie hatten nach einem Zeichen gesucht, das ihnen bewies, dass ihre tiefe Verbundenheit auch Veränderungen überstand.
Sie hatten es gefunden. Ihre Bäume waren die ganze Zeit über da gewesen.
Man konnte sie nicht anziehen. Man konnte sie nicht weitergeben. Sie waren kein schickes Accessoire.
Aber sie besaßen Wurzeln.
Sie lebten.
Ganz gleich, wie stark man eine Weide zurückschneidet: Sie wird niemals daran eingehen.
Danksagung
Wie so oft bedanke ich mich auch diesmal bei meinen treuen Mitschwestern aus der Buchwelt Jennifer Rudolph Walsh, Beverly Horowitz und Wendy Loggia.
Ich danke auch meinen fabelhaften Kollegen
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