Summer Sisters
weiß das, weil ich in der Fünften fast jeden Abend bei Ama gegessen habe und wahrscheinlich auch noch sehr oft in der Sechsten. Mein Vater hat damals viel gearbeitet und meine Mutter hatte keine große Lust zu kochen.
Esi war erst sechzehn, als sie mit dem Studium anfing, weil sie zwei Klassen übersprungen hat. Man hätte denken können, der Druck auf Ama hätte nachgelassen, als dieses Genie von Schwester endlich weg war, aber in Wirklichkeit hat das alles eher verschlimmert.
Polly
Jos älterer Bruder hieß Finn. Er hatte lockige Haare und blaugrüne Augen. Er hat versucht, uns das Skateboardfahren beizubringen. Er starb am Ende des Sommers, bevor wir in die fünfte Klasse kamen. Er war gerade mit der Siebten fertig und sollte in die achte Klasse kommen.
Finn hatte was am Herzen. Bevor er starb, klappte er zweimal zusammen. Einmal, als er zehn war, und das zweite Mal mit zwölf - genau zu der Zeit, als Jo, Ama und ich uns kennenlernten.
Er musste ins Krankenhaus und eine Menge Untersuchungen über sich ergehen lassen, aber sie konnten nicht finden, was ihm fehlte. Damals schien es, als sei es nichts Ernstes.
An die Woche, in der er starb, kann ich mich rückblickend nur noch ganz vage und verschwommen erinnern, aber die Beerdigung ist mir noch ganz klar im Gedächtnis. Jo ging, bevor die Zeremonie zu Ende war. Sie sollte eigentlich nach ihren Eltern noch eine Schaufel Erde auf den Sarg werfen, aber sie hat die Schaufel weggelegt und ist einfach gegangen. Ama und ich sind ihr gefolgt. Wir haben uns auf dem Parkplatz auf die Kühlerhaube vom Auto ihres Onkels gesetzt und mit Steinchen auf ein Metallschild geworfen. Ich kann heute noch das »PLING PLING PLING« hören, wenn wir getroffen hatten.
Es war wirklich ein Glück, dass wir drei in derselben Klassen
waren, denn so konnten Ama und ich immer bei Jo sein. Sie redete nicht darüber und wir stellten keine Fragen. Wir waren ihre Freundinnen, wir wussten, was man tun musste, und anscheinend wusste es sonst niemand. Es war, als würden wir einen Schutzwall um sie herum errichten. Das brauchte sie von uns.
Wir wussten, wie es bei Jo zu Hause zuging, deshalb waren wir an den meisten Nachmittagen und an vielen Wochenenden bei Ama, obwohl Amas Eltern immer streng darauf achteten, dass wir unsere Hausaufgaben machten. Ich hab nie mehr so viele Einsen bekommen wie in der fünften Klasse.
Ama hat uns damals versprochen, dass sie niemals eine Klasse überspringen würde, weil sie mit uns zusammenbleiben wollte.
Jo hörte auf, Geige zu spielen.
Sie sagte, es wäre zu laut.
Zwei- oder dreimal im Jahr besuchte Polly ihren Onkel Hoppy in seinem Seniorenheim, das ungefähr anderthalb Kilometer von ihrem Zuhause entfernt war. Manchmal, wenn er sich kräftig genug fühlte, gingen sie ins Diner an der Ecke und aßen Hühnersuppe.
Hoppy war wahrscheinlich gar nicht Pollys richtiger Onkel. Sie wusste nicht genau, wie sie verwandtschaftlich zu ihm stand. Aber er war irgendein sehr viel älterer Verwandter ihres Vaters - der einzige Verwandte ihres Vaters, dem sie je begegnet war -, deshalb war es ihr wichtig, den Kontakt zu ihm zu halten. Vielleicht war Hoppy ihr Urgroßonkel oder ihr Cousin dritten Grades. Er blieb immer sehr vage, wenn es um den Verwandtschaftsgrad ging, und Polly wollte ihn nicht zu sehr bedrängen. Sie fand es einfach nett, dass es da jemanden gab.
Deshalb saß Polly, als die anderen in den Sommerferien die
Koffer packten und ins Ferienlager oder ans Meer fuhren, auf einer mit rotem Kunstleder bezogenen Bank einem uralten Mann gegenüber, dem Haarbüschel aus den Ohren wuchsen.
Die Hühnersuppe wurde serviert und Polly betrachtete ihren Löffel.
»Mann!«, sagte sie. »Die Löffel hier sind ja so was von fettig!«
»Was meinst du?« Onkel Hoppys Gesicht verzog sich auf der einen Seite zu lauter Runzeln, und er beugte sich zu ihr, um sie besser zu verstehen.
»Mein Löffel ist richtig fettig«, sagte Polly. Sie wollte nicht zu laut sprechen, weil sie die Besitzer des Lokals nicht kränken wollte.
»Dein Löffel?«, blökte Hoppy. »Was ist mit deinem Löffel? Brauchst du einen neuen?«
Polly legte den Löffel auf den Tisch. »Nein, ist schon gut.« Vielleicht konnte Onkel Hoppy ja wegen der Haarbüschel nicht mehr richtig hören.
»Wie geht’s deiner Mutter?«
»Danke, sehr gut.«
»Macht sie immer noch diese...?« Onkel Hoppy legte den Kopf schief wie ein Labrador. »Was ist das noch mal, was sie immer
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