Summer Sisters
schüttelte den Kopf.
»Ich werde deiner Mutter raten, eine vierwöchige Entziehungskur zu machen. In Virginia gibt es eine hervorragende Klinik, die nur eine Stunde Fahrzeit von hier entfernt ist.«
Polly nickte wieder.
»Gibt es jemanden, der solange bei dir wohnen kann? Oder wo du während der nächsten vier Wochen bleiben könntest?«
»Sie kann bei mir wohnen«, meldete sich Ama.
»Oder bei mir«, sagte Jo.
Die Ärztin nickte. »Dr. Napoli hat schon angedeutet, dass das eine Möglichkeit wäre. Dann ist es ja gut.« Sie wandte sich wieder an Polly und in ihrem Blick lag Mitgefühl. »Deine Mutter wird wieder gesund werden, Polly.«
»Wirklich?«
»Als sie aufgewacht ist, hat sie gesagt, es gäbe einen Grund, einen ganz wichtigen Grund, weshalb sie wieder gesund werden muss.«
»Welchen denn?«
»Dich.«
Die Weide ist der Baum der Träume.
25
Als Jo nach Hause kam, taten ihr vor Müdigkeit die Augen weh. Sie nahm die Kontaktlinsen heraus und setzte ihre Brille auf; es war ihre alte, die schicke neue lag noch im Strandhaus.
Einer plötzlichen Eingebung folgend ging sie zum Schrank in ihrem Zimmer und holte den Geigenkasten heraus. Sie klappte ihn auf und betrachtete das Instrument mit der Schulterstütze und das kleine Döschen mit dem Kolophonium. Sie strich über das edle, glatte Holz und zupfte an einer Saite, nahm die Geige aber nicht heraus.
Was würde jemand wie Bryn von ihr denken, wenn sie ihre alte Brille aufhatte und auf ihrer Geige fiedelte? Wahrscheinlich würde sie sie für die größte Niete des Universums halten.
Sie dachte dankbar an Ama und Polly, die ihr Geigenspiel immer bewundert hatten. Sie hatten es toll gefunden, wenn sie die Chart-Hits aus dem Radio mitspielte, und waren zu jedem der Konzerte gekommen, bei denen sie früher mitgespielt hatte.
Jo spielte zwar an diesem Abend nicht auf der Geige, aber bevor sie schlafen ging, schob sie den Kasten unter ihr Bett.
Sie träumte von ihren drei Bäumen, zuerst von den Setzlingen in den kleinen Plastiktöpfen, dann davon, wie sie die
Bäumchen im Wald eingepflanzt hatten. Sie träumte von der Erde an ihren Händen und unter ihren Fingernägeln.
Die Erinnerung daran hatte sie immer verdrängt. Denn obwohl sie wusste, dass beides natürlich nichts miteinander zu tun hatte, hatte sie das Einpflanzen der Bäume immer mit der Schaufel voller Erde in Verbindung gebracht, die bei Finns Beerdigung ins Grab geworfen worden war. Doch die Erde in ihrem Traum hatte nichts Trauriges oder Bedrohliches.
Sie sah, wie die Wurzeln ihres Baumes in die Erde wuchsen, wie sie sich wanden und sich um die Wurzeln der Bäume von Polly und Ama schlängelten. Wie sie sich ausbreiteten, immer tiefer und weiter wuchsen, bis sie all die Orte erreichten, die ihr so vertraut waren: ihr Elternhaus, ihre Schule, das 7-Eleven und die Häuser, in denen Ama und Polly wohnten. Es schien, als gäbe es unter der ihr vertrauten, realen Welt noch eine zweite Welt, die über die Wurzeln ihres Baums mit der echten verbunden war - mit den Häusern, den Wurzeln anderer Pflanzen, den Würmern und Käfern und allen anderen Lebewesen im Erdreich.
Immer weiter wanderten ihre Wurzeln, bis sie schließlich den Friedhof erreichten, auf dem Finn begraben war. Sie wanden und schlängelten sich zu seinem Grab und leisteten ihm Gesellschaft. Selbst im Traum war ihr bewusst, dass dieses Bild ihr eigentlich Angst machen müsste, aber das tat es nicht.
Dann veränderte sich ihr Traum langsam, und ihr Blick wanderte zur Erdoberfläche, zum Himmel, zu den Ästen und Blättern über ihr, und plötzlich wusste sie, dass Finn dort oben auch nicht allein war.
Am nächsten Abend saß Polly in der Küche und sah zu, wie die Konturen des Wasserglases vor ihr auf dem Tisch im nachlassenden Licht immer mehr verschwammen. Im Haus war es
still, sie hörte nur die Schritte ihrer Mutter, die zwischen ihrem Schrank und dem Koffer auf ihrem Bett hin und her ging. Morgen würde sie nach Virginia abreisen.
Pollys Sachen waren schon bei Ama. Mr Botsio hatte ihren Koffer vorhin abgeholt und Dia versichert, dass sie bei ihnen solange wie nötig wohnen bleiben könnte.
Polly zog die Beine hoch und schlang die Arme um ihre Knie. Als ihre Mutter in die Küche kam, um den Inhalt des Kühlschranks nach verderblichen Lebensmitteln zu überprüfen, blickte sie auf. Sie sah, wie Dia die Wein- und Tonicflaschen betrachtete, sie rausnahm und in den Mülleimer warf.
»Willst du einen Keks?«,
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