Summer Westin: Todesruf (German Edition)
mitbrachte.
»Wie entscheidest du, worüber du schreiben willst?« An diesem Tag trug Lili ihr Haar zu beiden Seiten des Kopfs zu zwei komplizierten Haarknoten hochgesteckt, umwickelt mit roten und schwarzen Perlenschnüren, die in der salzigen Brise vom Pazifik leicht aneinanderklackten.
Sam, die neben ihr auf einem vom Wind blank geriebenen Treibholzstamm saß, musste ob Lilis erfrischender Naivität lächeln. Sie wandte den Blick von der rollenden Dünung ab und betrachtete das Mädchen. »Wenn man schreibt, um Geld zu verdienen, sagt einem normalerweise jemand anderer, worüber man schreiben soll. Man bekommt Themen, genau wie in der Schule.«
Lili runzelte enttäuscht die Stirn. »Echt? Ist ja ätzend. Ich dachte immer, als Autor wäre man frei.« Sie sah auf den Ozean hinaus. »Ich werde Friseurin, da kann man wenigstens kreativ sein.«
Sam musste sich beherrschen, um nicht zu lachen. »Es gibt nur wenige Jobs, die einem viel Freiheit lassen. Ich wette, die meisten Leute, die zum Friseur gehen, haben eine genaue Vorstellung, wie sie die Haare haben wollen. Sie lassen die Friseurin nur selten machen, was sie will.«
Gedankenverloren zupfte Lili an einer der Perlenschnüre, die von ihrem Kopf herabhingen. »Vielleicht.«
»Freie Journalisten haben mehr Freiheiten als fest angestellte. Man kann sich ein Thema überlegen und dann versuchen, ein Online-Magazin oder eine Zeitung dafür zu begeistern. Manchmal steigen sie darauf ein. Allerdings muss man sich erst die Mühe machen herauszufinden, wann und wo der Artikel am ehesten passen könnte. Normalerweise werden in erster Linie Artikel veröffentlicht, die zu der Produktwerbung in der jeweiligen Ausgabe passen.«
»Willst du damit sagen, die verkaufen die Geschichte?«
»Nein, damit wollte ich sagen, dass der Artikel helfen soll, andere Waren oder Dienstleistungen zu verkaufen.« Es war traurig, dass die Welt so kommerziell war, aber das würde Lili früher oder später lernen müssen. »Zum Beispiel kauft eine Zeitschrift vielleicht einen Artikel über das Thema Wandern, wenn es in der entsprechenden Ausgabe Werbung für Schuhe und Rucksäcke gibt.«
Lili sah sie ausdruckslos an. Entweder hatte sie es nicht verstanden, oder sie war bereits tödlich gelangweilt.
»Die Zeitschrift da zum Beispiel.« Sam deutete auf die Ausgabe von Max Girl , die aus Lilis Tourenrucksack herauslugte. »Darf ich?«
Lili nickte. Sam nahm das Heft und blätterte es durch. »Schau, hier ist ein Artikel darüber, wie man Augen-Make-up aufträgt. Und siehst du die ganzen Anzeigen für Augen-Make-up? Sie hoffen, mit der Kombination Artikel und Anzeigen können sie dich dazu bringen, dir Make-up zu kaufen.«
Lili zog die Stirn in Falten. »Dann manipulieren die uns also?«
Sam lachte. »Ich bin froh, dass du das merkst.«
»Das heißt, wenn du Artikel schreibst, manipulierst du ebenfalls Menschen.«
Jetzt war es an Sam, das Gesicht zu verziehen. »Für mich fühlt es sich meistens eher so an, als würde die Zeitschrift mich manipulieren.« Unternehmen wie The Edge schienen immer alle Trümpfe in der Hand zu halten. Jetzt hatte man sie sogar dazu gebracht, bei einer öffentlichen Veranstaltung eine Rede zu halten.
Sie konzentrierte sich wieder auf Lili. »Hast du auch manchmal das Gefühl, dass dich jemand zu manipulieren versucht, Lili? Dass dich irgendjemand dazu zu bringen will, Dinge zu tun, die du normalerweise nicht tun würdest?« Wie zum Beispiel Sex? Oder illegale Schilder im Wald aufhängen?
Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken. »Klar doch.«
Sam hatte nicht erwartet, dass es so einfach sein würde. »Und wer?«
Lili warf ihr einen schwer zu deutenden Blick zu. »Pah! Mom und Dad? Ist ja auch ihr Job.« Auf einmal deutete sie auf eine rundliche Gestalt, die in einer blaugrünen Welle schwamm. »Ein Seehund!« Sie sprang auf und rannte auf die Brandung zu.
Sam lief ihr hinterher, denn auch sie wollte mal wieder einen Seehund sehen. Einfach am Rialto Beach entlangzuspazieren machte viel mehr Spaß, als das Kind nach Informationen auszuquetschen. Wie ihr das fehlen würde – der Geruch nach Salzwasser und Lebensbäumen, die Seehunde und Bären und auch die Vögel, die über ihren Köpfen herumschwirrten. In zwei Wochen würde sie wieder zu Hause in ihrem winzigen Büro vor ihrem Computer sitzen, auf ihre Tastatur einhämmern und sich Sorgen machen, wo am Monatsanfang das Geld herkommen sollte. Tröstlich war nur der Gedanke an ihren Kater Simon, der ihr
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