Summer Westin: Todesruf (German Edition)
schön eng. Raider rührte sich nicht, als er hinübergehoben wurde. »Ich hoffe nur, er hat dem Tier keine Überdosis verpasst«, sagte sie zu Joe.
Er warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Was, denkst du, hatte Ford mit dem Bären vor?«
Sam verzog das Gesicht. »Ist dir aufgefallen, wie er gesagt hat: ›Ich bringe sie nicht um‹? Vielleicht wollte er damit sagen, dass er sie am Leben erhält, um ihnen Gallenblasenflüssigkeit abzusaugen.«
»Kann man das?«
»Ich habe gelesen, wie sie es in China machen. Es ist eine schreckliche Qual – dem Bären wird durch einen Einschnitt ein Schlauch in die Galle geführt. Die Flüssigkeit, die herausfließt, wird verkauft. Der Schlauch bleibt liegen, weil man hofft, dass der Bär noch mehr produziert, bevor er stirbt.« Allein beim Gedanken daran wurde ihr übel. »Aber mehr noch macht mir Sorgen, dass er gesagt hat ›Ich bringe sie nicht um‹. Das bedeutet, er hat das vorher auch schon gemacht. Vielleicht hat er irgendwo noch andere Käfige mit Bären.«
Sie erreichten ihren Wagen. Sam öffnete die Tür.
»Die beiden Jungs liefere ich im Knast ab, aber was mache ich mit dem Bären?«, fragte Joe.
»Hat der Park Service einen Tierarzt?«
»In Port Angeles«, erwiderte Joe wenig begeistert.
Eineinhalb Stunden von hier. Sam überlegte. »Ich nehme ihn mit zur Unterkunft. Schließlich bin ich im Moment als Biologin im Nationalpark angestellt. Und vielleicht gefällt es dem Wegetrupp, heute Nacht einen Bären bei sich zu haben.«
Sie fuhr ihren Pick-up rückwärts an Joes heran, und schiebend und ziehend gelang es ihnen schließlich, den Käfig von Joes auf ihre Ladefläche zu hieven. Raider rührte sich noch immer nicht, aber als sie an seinem Hals nach einem Puls tastete, schien er den Atem anzuhalten. Seine schwarzen Augen waren allerdings noch immer verschleiert und auf halbmast. Beunruhigend. »Hast du Augensalbe in deinem Erste-Hilfe-Koffer, Joe?«
Das hatte er. Sie drückte einen Streifen Salbe in die Augen des Bären, damit sie nicht austrockneten, und steckte die Tube dann für später in die Tasche.
Sam folgte Joe zurück zur Straße und versuchte die eiskalten Blicke zu ignorieren, die Ford und Martinson ihr zuwarfen. Am liebsten hätte sie die beiden mit dem Fernlicht geblendet, aber das wäre auch für Joe nervig gewesen.
Was hatten die beiden mit Raider vorgehabt? Und wo? »Ich bringe sie nicht um«, hatte Ford gesagt. Sam packte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Garrett Ford erinnerte sie an einen Mann, der sein Geld damit verdiente, Jägern wilde Tiere vor die Flinte zu treiben. Moment mal – hatte Ford gesagt: » Ich bringe sie nicht um«? Vielleicht war er Buck Ferguson ähnlicher, als sie bisher gedacht hatte.
Als sie die 4312 erreichten, bog sie nach rechts ab statt nach links. Im Rückspiegel sah sie Joes Bremslichter aufleuchten. »Was hast du vor, Sam?«, tönte es eine Sekunde später aus ihrem Funkgerät.
»Ich folge nur einer Eingebung. Fahr du ruhig, ich sage Bescheid, falls sich was ergibt.«
»Auf keinen Fall. Ich komme mit.«
Er wendete, und kurz darauf tauchten seine Scheinwerfer in ihrem Spiegel auf. Auch der Pick-up des Forest Service wendete. Ganz schön peinlich, falls sich ihre Eingebung als falsch erweisen sollte. Aber diese Straße war einfach perfekt – sie wurde nicht mehr instand gehalten und führte tief in den Wald, wo eigentlich niemand mehr etwas zu suchen hatte. Nicht einmal Bäume wurden hier noch gefällt. Die Straße wurde immer unebener. Sie fuhr langsam mit Allrad-Antrieb und warf einen prüfenden Blick in jeden Seitenweg. Glücklicherweise hatte der Regen ein wenig nachgelassen, und die Sicht war etwas besser.
Endlich entdeckte sie, wonach sie Ausschau gehalten hatte – frische Reifenspuren, die in den dichten Wald führten. Sie folgte ihnen über Steine und durch einen kleinen Fluss. Als ihre Scheinwerfer plötzlich eine Reihe mit Käfigen beleuchteten, konnte sie es kaum glauben. Sie ließ die Scheinwerfer an und stieg aus. Ein wunderschöner Hirsch mit einem Geweih mit fünf Enden blinzelte ihr aus seinem Gefängnis entgegen. Zwei Bergziegen hatten sich in eine Ecke ihres Käfigs gekauert. Ein Schwarzbär stand auf seinen Hinterbeinen und klammerte sich an den dicken Maschendraht, der ihn von der Freiheit trennte. Ein wütendes Fauchen tönte durch die dunkle Nacht. Meine Güte, war das etwa ein Puma?
Joe und die Ranger vom Forest Service hatten sie inzwischen
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