Summer Westin: Todesruf (German Edition)
ihrem Freund verbracht.«
»Nein«, knurrte Ernest. »So ist Allie nicht. Sie ist ein anständiges Mädchen. Ich habe sie gut erzogen. Außerdem habe ich Jack getroffen – so heißt der Junge. Jack Winner. Er hat eine Schreinerei, aber von der kann er gerade mal so leben. Allie könnte was Besseres finden. Sie hat was auf dem Kasten, viel mehr als ihr Vater.«
Gedankenverloren schüttelte er den Kopf. »Sie sollte eigentlich aufs College gehen, aber im Moment fehlt uns das Geld dafür. Sie wissen ja, wie das heutzutage ist. Für Kinder von Country-Club-Mitgliedern und für Minderheiten und alle möglichen Krüppel gibt es Stipendien, aber für die hart schuftende Bevölkerung machen die keinen Cent locker.«
Traurig starrte er in sein fast leeres Glas. Er schweifte immer weiter vom Thema ab. Das lag nur daran, dass er die ganze Woche niemanden zum Reden gehabt hatte. »Jedenfalls hat Jack gesagt, er hätte sie seit letztem Wochenende nicht gesehen.«
Bob zuckte mit den Schultern. »Wie alt ist sie? 20?«
»Gerade 21 geworden.«
»Aha. Dann ist sie jetzt in dem Alter, wo sie offiziell Alkohol trinken darf. Vermutlich hat sie Freitagnacht mit Freunden gefeiert und vergessen, Ihnen Bescheid zu sagen. Sie kommt bestimmt heute Abend nach Hause.«
Einer der Billardspieler pfiff. Bob klappte einen Teil des Tresens hoch und ging nach hinten, um zu sehen, was die Spieler wollten.
Aus den Augenwinkeln betrachtete Ernest den vierschrötigen Mann neben ihm. Der hatte den Blick auf den Fernseher gerichtet, wo gerade die Nachrichten liefen. Der Ton war leise gestellt, der Text für Hörgeschädigte eingeblendet. »Gefallene Helden« stand am oberen Bildrand über dem Foto einer Schwarzen in Uniform. Was für eine Verschwendung, diese blöden Kriege in Afghanistan und im Irak! Dafür hatte man also eine Regierung, dass sie die gleichen bescheuerten Fehler wieder und wieder machte. Und jetzt wurden auch noch weibliche Soldaten getötet. Wenigstens spuckte die Soldaten diesmal niemand an, wenn sie zurückkamen. Diesmal schien sich überhaupt niemand so recht dafür zu interessieren, was da drüben ablief.
Er überlegte, ob er zu dem Mann auf dem Barhocker neben ihm irgendetwas über den Krieg sagen sollte. Aber das war ein heikles Thema. Wenn er das Falsche sagte, würde er den Typ vielleicht verärgern. Ernest musterte ihn noch einmal verstohlen. Der Fremde trug eine schwarze Baseballkappe mit dem Aufdruck HAWKEYE TOURS in silbernen Buchstaben.
»Sind Sie mit einer geführten Gruppe hier?«, fragte Ernest.
»Nein«, erwiderte der Mann und richtete den Blick auf Ernest. »Ich versuche, in Forks ein eigenes Unternehmen aufzubauen, Jagd- und Angelausflüge und so was, in den Wäldern rund um den Park.« Er trank einen Schluck von seinem Bier. »Sie kennen den Olympic National Park?«
»Klar doch. Der ist hier überall.« Vor Jahren war Ernest mit Allie den gesamten Park abgefahren, damals, als sie noch ein kleines Kind gewesen war und sie hier heraufgezogen waren, um im Garten seines Schwagers zu wohnen. Der Park bestand aus mehreren Teilen, nicht alle miteinander verbunden. Da gab es den Hoh Rain Forest unten im Süden, im Osten die Olympic Mountains, überall tosende Flüsse, und im Westen Ozeanstrände mit Treibholzstämmen, größer als alles, was man heutzutage an Bäumen rumstehen sah. Allerdings war er schon seit Jahren in keinem der Teile mehr gewesen, abgesehen von jenen Stellen, wo der Highway 101 den Park durchschnitt. Wenn Allie auftauchte, konnten sie morgen vielleicht irgendwohin fahren, wo es schön war. Das wäre mal eine nette Abwechslung. Wo steckte sie bloß? Vielleicht hatte sie Überstunden machen müssen. Vielleicht wartete auch längst eine Nachricht von ihr auf seinem Anrufbeantworter.
Der Mann reichte ihm eine Visitenkarte. »Mein Name ist Garrett Ford. Wenn Sie von jemandem hören, der einen Jagd- oder Angelführer braucht, schicken Sie ihn zu mir, okay?« Er schüttelte Ernest die Hand, dann wandte er sich wieder dem Fernseher zu. Plötzlich spannte er sich an und knallte die Hand auf den Tresen. »Verdammt noch mal!«
Ernest richtete den Blick auf den Fernseher. Auf dem Bildschirm war eine silberblonde Frau mit einer Abschürfung im Gesicht zu sehen, die einen kleinen Jungen in den Armen hielt. Dann wurde ein weiteres Bild von derselben Frau gezeigt. Diesmal saß sie auf dem Boden, mit etwas auf dem Schoß, das wie ein toter Puma aussah. Unten am Bildschirm tauchten Worte auf, irgendetwas
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