Summer Westin: Todesruf (German Edition)

die wir in der Wunde gefunden haben.«
    »Wird sie bald wieder aufwachen? Wir müssen unbedingt wissen, was passiert ist.«
    Er sah auf seine Uhr, notierte etwas auf dem Blatt und klappte den Hefter dann zu. »Schwer zu sagen. Kopfwunden sind unvorhersehbar. Dazu kommt die Rauchvergiftung. Sie könnte Minuten oder auch Stunden schlafen. Sie könnte auch wieder bewusstlos werden und es tagelang bleiben.«
    Tagelang? Jetzt hätte Sam am liebsten den Arzt durchgeschüttelt. Stattdessen kaute sie an dem Knöchel ihres Zeigefingers herum.
    »Dass sie aufgewacht ist, können wir als gutes Zeichen werten«, fuhr der Arzt fort. »Drücken Sie auf den Knopf, wenn sie wieder zu sich kommt.« Seine Schuhe mit den Gummisohlen verursachten nicht das geringste Geräusch auf dem Fliesenboden, als er das Zimmer verließ.
    Sam lief am Fußende des Betts hin und her. Ihre Gedanken rasten und verknäulten sich ineinander wie in einem Einmachglas gefangene Insekten. Entführt. Von wem? Zu welchem Zweck? Wozu das Feuer? Dann die telefonische Drohung heute Morgen. Gab es da irgendeinen Zusammenhang mit Lisa? Würde der Anrufer eine Parkangestellte entführen? Ein Feuer legen? Hatte die alte Mine irgendetwas mit dem Ganzen zu tun? Der Bär? Hatten sie Raider eingefangen und getötet?
    Sam rief vom Zimmertelefon aus im Zentralbüro des Parks an und geriet leider an Hoyle. Sie wiederholte, was Lisa gesagt und was der Arzt ihr erzählt hatte, und schloss mit den Worten: »Vermutlich sind es nur Wahnvorstellungen, aber vielleicht sollten wir trotzdem eine Wache vor Lisas Tür stellen, für alle Fälle. Egal, ob sie nur halluziniert oder wirklich entführt wurde – die Brandstiftung ist auf jeden Fall ein Verbrechen und Lisa vielleicht unsere einzige Zeugin.«
    Hoyle antwortete mit einem tiefen Seufzer. »Dafür haben wir kein Budget, und die Polizei von Port Angeles will es nicht machen. Deshalb werden unsere Leute rund um die Uhr bei ihr sitzen. Lassen Sie mich wissen, wenn sie wieder aufwacht, dann schicke ich einen Ranger rüber, damit er sie befragen kann.«
    Frustriert legte Sam den Hörer auf, dann lief sie wieder ungeduldig neben Lisas Bett auf und ab. Chase! Sie würde Chase anrufen. Wenn ein Staatsangestellter entführt wurde, ging das das FBI doch bestimmt etwas an. Sie griff nach dem Telefonhörer, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Reiß dich zusammen. Wie der Arzt gesagt hatte, konnte Lisa einfach nur halluzinieren oder völlig verwirrt sein. Opfer mit Hirnverletzungen verwechselten oft die Worte und sagten etwas, obwohl sie etwas ganz anderes meinten.
    Sie starrte auf die schlafende Lisa, der sie gern Millionen von Fragen gestellt hätte. Was immer die Täter am Marmot Lake gewollt hatten – bisher waren sie jedenfalls damit davongekommen. Sie waren noch immer dort draußen. Doch die junge Frau rührte sich nicht, nur ihre Brust hob und senkte sich unter der weißen Bettdecke.
    Bitte, wach auf. Sam packte einen von Lisas Füßen. Vorsichtig zupfte sie an einem Zeh. Lisa stöhnte. Schuldbewusst zog Sam die Hand zurück. Jetzt folterst du schon ein schwer verwundetes Mädchen. Sie floh, sobald Mack kam, um sie abzulösen.
    Am Sonntagabend war Ernest Craig endgültig verzweifelt. Niemand im Ort hatte Allie gesehen. Er hatte ihr Zimmer im Wohnwagen durchsucht, aber nirgendwo eine Telefonnummer von ihrer Arbeitsstelle gefunden. Dann hatte er nochmals Jack Winner angerufen, außerdem ihre Freundin Susan Plinsky. Keiner von beiden kannte den Namen der Firma in Seattle, bei der sie arbeitete.
    Er saß an dem ramponierten Küchentisch und stützte den schmerzenden Kopf auf die Hände. Allie war so stolz gewesen, endlich diese Stelle gefunden zu haben, nachdem sie fast ein Jahr lang nach einem besseren Job gesucht hatte, als den bei Best Burgers in Forks. Sie war intelligent, aber nur mit einem Highschoolabschluss kam man heutzutage nicht weit. Das Beste, was sie hatte ergattern können, war eine Anstellung bei einem Landschaftsarchitekten. Oder handelte es sich um eine Baumschule?
    Wieso kümmerte er sich eigentlich nicht um solche Sachen? Mist – wie sollte er anrufen und sie fragen, ob alles in Ordnung war, wenn er den Namen der Firma nicht kannte? Er konnte sie nicht mal vermisst melden; der Countysheriff, dieser Klugscheißer, würde ihn vermutlich nur auslachen. Ernest ließ den Kopf auf die kühle Resopalplatte des Tisches sinken. Geschah ihm recht, dass er litt. Schon seine Exfrau hatte ihm immer vorgeworfen, sein Leben