Summer Westin: Todesruf (German Edition)
rausbrechen und im Morgengrauen aufstehen und irgendwo im Niemandsland übernachten müssen.«
»Sie halten Lisa für eine Verbrecherin, nur weil sie zäh ist?«, fuhr Sam empört auf. Würde er das Gleiche von einem jungen Mann behaupten?
»Ich sage nur, sie hängt mit Kriminellen rum, und sie ist zäh. Sagt sie die Wahrheit, wenn sie erzählt, was hier passiert ist?« Er schüttelte den Kopf, als wolle er seine Frage selbst beantworten.
»Sie wäre beinahe gestorben, Paul. Sie ist ein Opfer.«
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Aber Methköche sprengen sich in die Luft, Jäger erschießen aus Versehen ihre Partner. Wenn Sie mal lange genug hier draußen sind, werden Sie verstehen, was ich meine.«
Sam hätte nichts dagegen gehabt, lange genug im Park zu sein, um alle seine Geheimnisse zu erforschen. Auf der anderen Seite des Sees bewegte sich am Ufer ein Vogel. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, um was für einen es sich handelte.
Schulers Augen folgten ihrem Blick. »Kanadagans«, sagte er.
Er hatte recht – der Vogel drehte sich um, und jetzt konnte sie den schlanken Hals und den schwarzweißen Kopf deutlich erkennen. »Haben Sie irgendwelche Hinweise auf Bären entdeckt?«
»Nur ein paar Tatzenabdrücke. Und jede Menge Hufspuren. Hier ist letzte Nacht ein Elch durchgekommen.« Sein Magen knurrte.
Sofort fiel ihrer ein. Sie presste die Hand auf den Bauch.
»Abendessenszeit. Ich sperre jetzt ab.«
Sie zögerte, weil sie noch gern nach Raider Ausschau gehalten hätte. Aber Schuler war erfahren genug, um Bärenspuren zu erkennen und Gänse aus großer Entfernung exakt zu identifizieren. Wenn er keine Bären gesehen und auch sonst nichts Auffälliges bemerkt hatte, würde sie das wohl auch kaum. Und Abendessen klang außerordentlich verlockend. Sie stieg wieder in ihren Pick-up, fuhr Richtung Forks und überließ es Schuler, die Schranke herunterzulassen und abzuschließen.
Sie überlegte sich, was sie an Vorräten für ihre Schicht auf dem Feuerturm brauchte. Erst als sie im Kopf bereits einen Teil der Liste zusammengestellt hatte, fiel ihr wieder ein, dass der Turm nicht mehr ihrer war. Sie bremste und hielt an.
Damals, als man ihr den Job angeboten hatte, hatte man ihr auch eine grob gezimmerte Unterkunft irgendwo im Park offeriert. Im Moment war das zentrale Unterkunftsgebäude des Parks voll mit Rangern, die im Sommer hier arbeiteten, also konnten sie das nicht gemeint haben.
Die Unterkunft des Wegetrupps – das musste es sein. Eine baufällige alte Pension, ein paar Meilen von den Sol Duc Hot Springs, den heißen Quellen, entfernt. Ein ganzes Stück zu fahren, aber … Die Aufregung vertrieb ihre Müdigkeit. Wenn sie beim Wegetrupp übernachtete, könnte sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sie hätte einen Schlafplatz, und sie könnte Lisas Kollegen unter die Lupe nehmen und ihre Entführungsgeschichte überprüfen. Wenn es noch ein freies Bett für sie gab.
Vermutlich war es nicht sehr klug, unangekündigt dort aufzutauchen, zumal es bereits recht spät war. Nun – wenn sie die Nacht schon in der Stadt verbringen musste, konnte sie genauso gut genießen, was die Zivilisation ihr zu bieten hatte. Sie war ganz scharf darauf, endlich mal wieder an einen Computer zu kommen. Die Bücherei in Forks und das Gebäude des örtlichen Hauptquartiers waren bereits geschlossen. Macks Apartmenthaus lag am nächsten. Glücklicherweise hatte sie noch immer einen Schlüssel zu seiner Wohnung.
Sie fuhr zu Best Burgers und bestellte das Tagesgericht, Twilight on the Beach, das an diesem Abend aus Jakobsmuscheln und Krautsalat bestand. Wie üblich war viel los. Eine der Freuden des Lebens in einer Kleinstadt, dachte sie. Sie erinnerte sich noch gut an all die Stunden, die sie im Burger Corral in ihrem Heimatort in Kansas herumgehangen hatte.
Zwei Nischen waren besetzt mit Teenagern, die sich gegenseitig mit den Papierhüllen von Plastikstrohhalmen beschossen. In der nächsten Nische saß eine vierköpfige Touristenfamilie, die Köpfe über eine Karte von der Olympic Halbinsel gebeugt. In der Ecknische hockte eine weitere Familie, Vater, Mutter und zwei kleine Mädchen, aber sie waren wohl eher Einheimische. Bildete sie sich das nur ein, oder starrten die beiden Erwachsenen wirklich in ihre Richtung?
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. Die Nähte waren hässlich, das wusste sie, aber so hässlich, dass Fremde sie stirnrunzelnd anglotzten? Ihr
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