Summer Westin: Todesruf (German Edition)
erwähnen konnte, abgesehen von den Artikeln und Fotos, die sie veröffentlicht hatte.
Wenn sie wirklich Hauptrednerin bei der Wildlife-Konferenz wäre, würde ihn das sicher stolz machen. Sie könnte ihm eine Broschüre mit ihrem Namen darin senden. Ein leises Stöhnen entwich ihren Lippen. Sie durfte das Angebot nicht ablehnen.
Wieder ertönte das Wolfsgeheul ihres Handys. Das konnte nur Chase sein. Voller Vorfreude hob sie es ans Ohr. »Ich hoffe, du lernst gerade eifrig diese speziellen FBI-Tricks, Special Agent«, flüsterte sie verführerisch.
»Oh.« Eine kindliche Stimme. »Spricht da Summer Westin?«
Lili. »Ich bin’s, Liebes«, erwiderte Sam beschämt. »Ich dachte, du wärst jemand anderer.« Sie musste sich endlich angewöhnen, erst auf das Display zu schauen.
»Das habe ich mir schon gedacht. Du kennst jemanden vom FBI?«
»Ein Freund von mir ist FBI-Agent.« Sie würde einer 13-Jährigen nichts von ihrem Liebesleben erzählen.
»Geil.« Nach kurzem Zögern fügte Lili hinzu: »Aber ein FBI-Agent ist Bundesbeamter, stimmt’s? Das ist dann vielleicht doch nicht so geil.«
»Glaub mir, Lili, er ist wirklich klasse.« Entnervt stellte sie fest, dass sie jetzt doch mit einer 13-Jährigen über ihr Liebesleben redete. »Aber deswegen hast du bestimmt nicht angerufen.«
»Erinnerst du dich an mein Projekt über Berufswege? Ich habe jetzt jede Menge Fragen an eine Wildbiologin gesammelt. Und ich wollte wissen, ob wir uns morgen nach der Schule treffen können?«
Sam hatte vor, den größten Teil des morgigen Tags am Marmot Lake nach möglichen Anzeichen von Problemen Ausschau zu halten. »Ich muss arbeiten.«
»Und ich muss zur Schule gehen«, erwiderte Lili in leidendem Ton.
Gutes Argument. Und sie hatte nun mal versprochen, ihr zu helfen. »Du hast recht. Um wie viel Uhr ist ›nach der Schule‹?«
»Um zwei habe ich Schluss.«
Eine verdammt schlechte Uhrzeit – mitten in der besten Zeit für ihre Studien. »Lili, hättest du nicht Lust, ein bisschen mit mir vor Ort zu arbeiten?«
»Wirklich? Das wäre klasse! Vielleicht stoßen wir auf einen Bären.«
»Vielleicht. Ich bin gerade auf der Suche nach einem. Meinst du, dein Dad oder deine Mom könnten dich so gegen drei hier rausbringen?«
»Ich gehe gerade zu Dad, du kannst ihn selbst fragen.«
»Zieh Stiefel an und nimm eine Flasche Wasser mit.«
»Mache ich. Danke, Tante Summer. Bis morgen.«
Nachdem Sam mit Joe vereinbart hatte, dass sie ihn und Lili morgen auf einem der Campingplätze des Forest Service treffen würde, beendete sie das Gespräch. Sie ging durch das Wohnzimmer und stellte den alten Fernseher an. Nichts tat sich. Sie kontrollierte, ob das Gerät eingesteckt war, dann gab sie dem alten Schätzchen einen kräftigen Hieb und stellte ihn ein paarmal an und wieder aus. Nichts.
Sie sah Macks Büchersammlung durch, die vor allem aus Militärthrillern, Lastwagenkatalogen und Botanikbüchern bestand. Ihr Freund war vielleicht genauso ein Outdoor-Enthusiast wie sie, aber er war ein Mann, noch dazu ein junger. Sie kam sich vor wie ein Lachs, der den falschen Wasserfall hochgesprungen und in einem fremden Gewässer gelandet war.
Sam ließ sich auf den Boden sinken, zog ihren Matchbeutel zu sich heran, wühlte in ihm herum und kramte schließlich eine Plastiktüte hervor, die einen Stickreifen, Garn und einen kleinen Stapel Quiltvierecke enthielt. Sie leerte den Inhalt auf den Boden aus. Die fertigen Vierecke waren der Anfang eines Albumquilts. Ihre Großmutter hatte einen für ihre Mutter gemacht: ein Zeugnis der Meilensteine in Susan Crawford Westins kurzem Leben. Vierecke, die Begebenheiten aus der Kindheit festhielten, dann Highschoolabschluss, Verlobung, Heirat und die Geburt ihres einzigen Kinds, Summer.
Der Albumquilt ihrer Mutter war Zeugnis eines traditionellen Lebens. Ihr eigener würde von einem ganz anderen Leben erzählen. Und da ihre Mutter und ihre Großmutter bereits beide unter der Erde lagen, würde Sam ihn selbst zu Ende sticken müssen.
Das oberste Viereck hatte noch ihre Mutter gestickt. Sam konnte sich nicht erinnern, sie jemals mit Nadel und Faden gesehen zu haben, also musste sie es kurz nach Sams Geburt gefertigt haben, bevor die Lateralsklerose ihren Händen die Kraft geraubt hatte. Ein gelbhaariges Baby, das im Schneidersitz auf einer Bibel saß und nach einem schwarz-roten Schmetterling griff, der gerade außerhalb seiner Reichweite flatterte. Sam wusste, dass sie dieses Baby war und die Bibel für
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