Summer Westin: Verhängnisvolle Spuren (German Edition)
kann sich auch abstoßen, statt an der Wand entlangzugehen – aber seien Sie vorsichtig und führen Sie das Seil. Dann schwingt man weiter unten wieder zur Wand zurück.« Sie führte es ihm vor, glitt wie eine Spinne am Faden an ihm vorbei. Das verwundete Bein brannte jedes Mal wie Feuer, wenn ihre Stiefel auf der Wand landeten.
»Versuchen Sie’s. Aber langsam, keine Superman-Allüren, sonst kollidieren Sie mit dem Fels.«
Sie stieß sich ab, gab etwas Seil nach und kam etwa drei Meter weiter unten leise stöhnend wieder auf. Perez folgte ein Stück weiter oben.
»Gut. Lassen Sie die Füße vorn.«
Er schaute zwischen den gespreizten Beine nach unten. »Wie weit geht es runter?«
»Von hier sind es etwa fünfzig Meter.«
»Na, großartig. Tief genug für eine Querschnittslähmung.«
»Vollständig gelähmt ist wahrscheinlicher. Oder gleich ganz tot.« Unglücklicherweise hatte sie das letzte Wort zu laut ausgesprochen, in dem engen Raum schallte das Echo. Tot … tot … tot.
Perez hob den Finger an die Lippen. »Da unten könnte jemand sein«, flüsterte er. Dann krümmte er die Finger zu einem Pistolenlauf.
Sofort nach seiner Meldung am Arbeitsplatz rief Rafael Castillo endlich beim Verkehrsamt in Utah an, um Orrin R. Wilson zu überprüfen. Die halbe Nacht hatte er über den Kerl nachgedacht. War Wilson wirklich so schleimig, oder hatte ihn die Sache mit Zachary Fischer ganz irre gemacht? Er hatte ja weiß Gott in den letzten Tagen nicht besonders viel geschlafen.
»Kein Problem«, sagte der Beamte, als er nach ein paar Minuten wieder am Telefon war. »Hier haben wir es: Orrin R. Wilson, Rock Creek, keine unbezahlten Strafzettel. Rein gar nichts. Erstaunlich. Wie viele Leute werden schon neunundsiebzig, ohne dass sie jemals beim Rasen erwischt werden.«
»Neunundsiebzig?« Der Wilson, den er kannte, war höchstens Anfang fünfzig. Wer war das Ekelpaket, das Orrin R. Wilsons Namen benutzte? Das Ekelpaket, das seine schmierigen Finger gestern Abend an seinen Kindern gehabt hatte?
»Geben Sie mir die Adresse«, verlangte er.
Der nagelneue Führerschein! Was war er doch für ein Idiot! Er verdiente es nicht, Polizist zu sein. Das war keine Ersatzausstellung, sondern eine Fälschung. Der Kerl hatte sein Foto auf den Träger montiert und alles neu laminiert. Es war kein Trost, dass Taylor auch darauf hereingefallen war. Den ganzen Weg nach Rock Creek hatte er den Fuß auf dem Gas.
Dort blickte eine ältliche Ruth Wilson verwirrt durch die Fliegengittertür. Sie war noch im Morgenmantel, das weiße Haar stand unordentlich ab, was Rafael daran erinnerte, dass es erst halb neun an einem Samstagmorgen war.
»Orrin ist seit dem Memorial Day im Pflegeheim«, sagte sie. »Er ist doch nicht etwa gestorben?« Tränen schossen in ihre blassen Augen.
Rafael beruhigte die Frau und fragte nach Russ Wilson.
»Russ?« Ihr Gesicht, das an einen vertrockneten Apfel erinnerte, zog sich noch mehr zusammen. Dann leuchtete so etwas wie Verständnis auf, als wäre die sprichwörtliche Glühbirne angegangen. »Ach, Sie meinen sicher Wally.«
»Wally?«
»Das ist mein Sohn. Er ist aber gerade nicht hier. Hat sich unser Wohnmobil für ein paar Tage ausgeborgt, sein alter Buick steht in der Werkstatt.« Die dünnen Finger krallten sich in den Nylonmorgenrock. »Ich weiß nicht, warum er sich von allen Russ nennen lässt, und warum er nun auch noch meinen Nachnamen benutzt, ist mir völlig schleierhaft. Ich habe ihm doch einen guten Namen gegeben: Wallace. Wallace Russell.«
»Der Kinderschänder?«, schrie Rafael die alte Dame an. Er hatte seit Tagen nach dem Buick von Wallace Russell Ausschau gehalten, seit der Name bei der Überprüfung durch das FBI aufgetaucht war.
Ruth Wilson überprüfte noch einmal, ob die Tür auch abgeschlossen war. »Ich weiß nicht, warum die Leute immer so hässliche Dinge über Wally sagen«, schniefte sie. »Er hat doch jetzt eine Freundin und alles so was.«
21
Pastellfarbene Bänder durchzogen den Fels wie flatternde Vorhänge. Perez und Sam glitten an Millionen von Jahren vorbei. Schon hatten sie den gelben Schiefer der Periode, in der die ersten Menschen aufgetaucht waren, hinter sich gelassen und näherten sich dem violetten Fels am Fuß der Kammer – so hatte die Erde ausgesehen, als die ersten Säugetiere in diese Gegend gekommen waren.
Der Rhythmus des Abseilens und die Farben übten wie jedes Mal eine beruhigende Wirkung auf Sam aus. In ihrem übermüdeten Zustand waren
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