Suna
Mainz geschickte Telegramm verpasst) und der Erkrankung seiner Mutter.
Einen winzigen Moment, für den er sich den Rest seines Lebens schämen sollte, gab er sich dem Gefühl hin, wie es sein könnte, in Zukunft ganz ohne Irma zu leben – es war nicht die allerschlechteste Empfindung, die er je verspürt hatte.
Er hatte sich, bis auf seine Freundschaft mit Claudia, für generell nicht tauglich im Umgang mit Menschen gehalten. Verschiedene Erlebnisse während seiner Studentenzeit hatten ihn darin bestätigt. Nur selten war es ihm gelungen, Gespräche über einen Abend hinweg zu führen oder überhaupt Gleichgesinnte zu finden. Einmal hatte er einen Abend in einem Verbindungshaus zugebracht, aber auch wenn ihm die Lieder und Reden dort gefallen hatten, so fühlte er sich schnell unbehaglich in der Enge der Rituale, und es blieb bei einem einmaligen Gastspiel.
Aber nun zog er in Erwägung, dass es einen ganz bestimmten einzelnen Menschen geben könnte, der als Ursache für seine Menschenscheu in Frage käme: seine Mutter. Im Angesicht ihrer möglicherweise tödlichen Krankheit öffnete er einen Spaltbreit seine Augen.
Entsetzt von diesem Gedanken (und gleichzeitig entzückt von der Lösbarkeit seines Problems, es wäre ja nur eine Frage der Zeit), sagte er zu, wenigstens einmal mit dem behandelnden Professor zu sprechen und die neue Verantwortung, die nun auf ihm ruhte, zu tragen.
Ein Chirurg schnitt.
Ein Strahlenarzt bestrahlte.
Wochenlang.
»Es ist eine ganz neue Methode«, sagte der Professor stolz zu Thea, die eigentlich von nichts das Fürchten bekam und jetzt entsetzt vor den Apparaturen stand.
»Wie neu?«, fragte Thea.
»Wir versuchen es das erste Mal«, musste der Professor zugeben. »Ich habe das aber mit dem Sohn besprochen«, fügte er hinzu, als er Theas Miene sah.
Thea und Johannes blieben skeptisch, doch der Professor behielt recht. Irma war nur noch ein Schatten, aber der Krebs war gänzlich verschwunden.
Sie durfte nach Hause, als sie die Nahrung nicht mehr erbrach und weil Thea bereit war, sie zu pflegen. Johannes schnitt auf ihr Geheiß hin jeden Tag eine Blüte vom Rosen busch seines Vaters und brachte sie seiner Mutter ins Kran kenzimmer. »Rosa Borbonica«, sagte Irma, als sie wieder sprechen konnte.
Eine Reise an die Nordsee wurde geplant, »eine letzte«, wie Irma sagte. Thea konnte nicht mitkommen, zu lange hatte sie die Apotheke vernachlässigt.
»Nur Johannes und ich«, sagte Irma glücklich.
»Wer weiß, wie oft du das noch erleben kannst«, sagte Thea. »Der Junge wird irgendwann heiraten.«
Daran hatte Irma schon lange nicht mehr gedacht. Das Lehrerstöchterlein war ja wohl keine Kandidatin mehr. Da waren ein Kaffeebesuch bei den Eltern und ein intensives Gespräch unter vier Augen, ganz offen von Mutter zu Mutter, zu ihrer vollsten Zufriedenheit verlaufen.
»Heiraten? Wen denn?«
Thea lachte.
»Gewöhn dich ruhig dran, wir werden für ihn bald alte Schachteln sein. Schau ihn dir an, er sieht gut aus, er hat einen guten Beruf, er kann charmant sein, wenn er will. Er wird eine Frau finden.«
»Aber er ist doch glücklich mit uns«, sagte Irma.
»Du bist glücklich mit ihm, Irma«, sagte Thea, und da war womöglich mehr dran, als Irma jemals hätte zugeben wollen.
Magdalena
So spät schon, kleine Tochter. Da sitzt du und hörst mir zu, wie ich dir von Dingen erzähle, die so lange zurückliegen. Sie sind nahe gerückt, dicht an uns beide heran, in diesem Jahr noch spürbarer, als mir lieb ist. Aber ich mag sie nicht mehr wegschieben, wie ich es früher getan habe. Dein Bruder spielt gerne Verstecken, indem er mitten im Raum stehenbleibt und sich die Hände vor das Gesicht hält. Er glaubt, weil er uns nicht mehr sehen kann, sei er für uns ebenfalls unsichtbar. Mit den vergangenen Geschichten ist es ganz ähnlich: Sie sind in unserem Leben und entfalten ihre Wirkung, ob man sie nun betrachten will oder nicht.
Weißt du was? Du schläfst ja doch nicht so bald. Ich hole mir jetzt noch ein Glas Wein, und dann erzähle ich dir von deiner Großmutter Magdalena. Wahrscheinlich wird sie uns morgen früh anrufen, Punkt acht Uhr, wie sie das jedes Jahr tut an diesem Tag.
»Denkst du dran«, wird sie sagen. Melde dich bei deiner Mutte r / Sie wartet darau f / Ich weiß das, wenn deine Kinder groß sind, verstehst du es auch.
Und wie jedes Jahr werde ich sagen: »Ich rufe sie an, das weißt du doch«, und dann werden wir noch ein oder zwei andere Themen anschneiden
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