Suna
Mutter zufrieden sagte: »Jetzt machen sie dem Schwein den Prozess.«
Das »Schwein« hieß erstaunlicherweise genau wie die Puppen von Ruth.
Ich sah und hörte dies alles, nahm es in mich auf und lag nachts in meinem Kinderzimmer wach, nur eine Wand zwischen den Eltern und mir.
Meine Missgeschicke tagsüber nahmen zu, meine Vergesslichkeit ebenso. Ich vergaß, wann ich abends nach Hause kommen sollte, verlor meine Uhr, bezahlte das Strafgeld, ging ohne Essen ins Bett.
Blieb hin und wieder ganz weg und stellte mir vor, wie es wäre, vielleicht nie wieder zurückzumüssen in diese Nächte, die ich nur mühsam überstand und in denen ich nicht anders konnte, als den mitgeschmuggelten Joghurtbecher zum Lauschen zu verwenden, nur um dann nicht zu wissen, wohin mit der luftabschnürenden Angst, wenn man die Mutter schluchzen hört und den Vater schweigen.
Es nicht auszuhalten und doch aufzustehen, nur eine Wand zwischen uns, aber der Weg zu ihnen geht durch das Haus, durch dunkle Hallen und dunkle Gänge, am offenen Treppenhaus vorbei und durch einen Vorhang hindurch, von dem man nicht weiß, ob er wirklich nur die Schlafzimmertür verbirgt oder etwas ganz anderes. Sich trauen. Mut fassen. Die Klinke berühren. Noch mehr Angst, noch viel mehr, weil man da steht und jetzt wieder weiß, da drin wird man keinen Trost finden, sondern das Gericht.
Warum bist du hie r / warum schläfst du nich t / warum widersetzt du dic h / haben wir dir erlaubt hereinzukomme n / leg dich wieder hin!
Nicht umkehren können, weil der Weg zurück viel weiter ist, und vielleicht bildet man sich das nur ein? Heute war man brav gewesen und die Mutter vielleicht anders? Die Chance nicht verpassen, hineingehen, fragen, bitten, vom Bauchweh erzählen und, ganz wichtig, nicht auf den Flokati spucken, das geht so schwer raus.
»Geh was trinken«, sagte Magdalena und sah auf die Uhr.
»Mir ist schlecht wegen Heribert Schwan«, sagte ich und wusste nicht, warum.
Allein den Namen auszusprechen tat gut.
Heribert Schwan.
Lachen über das ungewohnte i, sogar mit den Eltern gemeinsam, und an Schwäne denken und ihr schönes weißes Gefieder.
»Du willst es wissen«, sagte meine Mutter.
Ich sah ihr nachtgraues Gesicht, ihren Blick auf mir ruhen, der sonst so oft abwesend in die Ferne ging. Ich sah ihre feinen Hände den Morgenmantel greifen, Hände, die tagsüber damit beschäftigt waren, zu reinigen und zu ordnen.
»Ja«, sagte ich.
»Du willst es wissen«, wiederholte sie, und noch während ich abermals ja sagen wollte, zerschnitt Magdalenas Luisa-Ton die Stille und stieg in eine Geschichte hinein vom toten Pferd im Fluss und von einer Mutter und ihrem Kind, das ertrunken war.
Dann rannte ich mit meiner Mutter an der Hand zurück zum Haus meiner Großeltern durch die zerbombte Stadt. Und ich sah das Klavier in der vierten Etage eines Hauses stehen, das keine Fassaden mehr hatte. Ich saß mit ihr im Luftschutzbunker, sah Tote in den Gassen liegen und erkannte meine Heimat nicht wieder.
Ich lachte mit ihr über das Glück, von Amerikanern besetzt worden zu sein, und sie weinte sehr um das Pferd.
In immer exakt denselben Worten erzählte Magdalena, als wären ihre Erinnerungen aus Porzellan. Starr, für immer erhalten, und ebenso zerbrechlich. Wenn sie nicht sprach, waren wir uns wieder fremd wie zuvor.
Also schaute ich hin. Gehorsam und gebannt von dem fadendünnen Gefühl, eine schmale schwankende Brücke betreten zu haben, hinüber zu ihr, meiner Mutter.
Jeden Tag ging ich ein Stückchen weiter zu ihr hinüber und stellte Fragen und bohrte tiefer und verlangte nach mehr, weil ich mit einem Mal meine Mutter spüren konnte.
Weil ich meine Mutter spürte, wenigstens ein bisschen, wenn sie von den Schrecken erzählte und ich neben ihr stehen und stark sein konnte.
»Hörst du noch zu, Luisa?«, fragte sie zwischendurch, und ich war schon satt bis oben hin und nickte trotzdem und hörte zu.
Als wäre ein Damm gebrochen, eine Begrenzung aufgehoben, bekam ich meine Mutter endlich zu fassen und nahm ihr bereitwillig das schwere Gepäck ab, wir hatten ja beide kein Zuhause.
Da drüben kam eines Tages ein Mann aus dem Krieg nach Hause, ein Vater, und Magdalena wurde böse, weil ich nicht sofort wusste, wer das war.
»Er ist dein Großvater Luisa!«, sagte sie aufgebracht. » Du darfst zum Gymnasium, da sollte man annehmen, du weißt, wie das damals war.«
Der »Krieg« aber hatte bis dahin nur in meinen Kinderbüchern stattgefunden. Mit
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