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Suna

Suna

Titel: Suna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziefle Pia
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und nichts bezahlen. Er selbst fuhr schon seit Monaten mit einem »Tempo 80, dem Wald zuliebe«-Sticker mit mindestens einhundert Sachen über unsere Autobahn und regte sich maßlos auf, wenn er dabei auch noch überholt wurde.
    »Für seinen Bluthochdruck im Alter wird die Allgemeinheit bezahlen müssen«, sagte er jetzt aber friedlich, während er seine Pfeife stopfte.
    Mein Vater blieb siebzehn Tage im Schatten hinter dem Ferienhaus. Siebzehn Tage las er dort Zeitung, sogar den Sportteil. Siebzehn Tage sah und hörte man ihn nicht, solange die Sonne schien.
    »Schöner Familienurlaub«, sagte Magdalena, während sie die von zu Haus mitgebrachten Raviolidosen öffnete.
    »So hab ich mir das nicht vorgestellt«, sagte sie beim Abendessen. »Wie denn dann?«, fauchte er. »Anders eben«, zischte Magdalena zurück.
    Dennoch habe ich Magdalena nie fröhlicher gesehen als dort in Italien. Sie war aufgeregt, weil sie schon einmal da gewesen war, nicht genau da, sondern weiter links (»Westlich!«, schnarrte mein Vater), mit einem Herrn Jorgensen, für den sie früher gearbeitet hatte, dessen »Angestellte« sie gewesen war, und ich stellte mir vor, was man als »Angestellte« so machte, denn ich kannte das Wort nicht, sondern nur Magdalenas gereiztes Geschimpfe, ich solle mich nicht so anstellen. Ich glaubte nicht, dass dieser Jorgensen es wagen könnte, so mit Magdalena zu sprechen, hätte aber so einiges drum gegeben, es einmal zu erleben.
    Von Mailand sprach sie und von Anzugstoffen, von Qualitäten und Schnitten, aber da rannten Ruth und ich schon los und spielten im Sand. Mit zwölf kann man das gerade noch machen, dachte ich.
    Am Strand gab es Sonnenmilch, jedoch nicht für mich.
    » Du brauchst das nicht, aber Ruths Haut ist ganz anders «, sagte Magdalena und sah dabei aus, als hätte sie das lieber doch nicht gesagt.
    Ab mittags wollte sie mit Ruth ganz im Schatten bleiben.
    »Sie ist zu empfindlich«, sagte sie.
    Das war sie tatsächlich. Denn eines Tages musste man mitten am Tag in der allergrößten Hitze den K70 (und Johannes) aus dem Schatten holen und über holperige Straßen und noch holperigere Wege und noch ein Stück zu Fuß zum Arzt gehen, weil Ruth ein Sandkorn im Auge hatte, woran sie vielleicht gestorben wäre, so sehr hat sie geschrien.
    Am Meer war ich zufrieden.
    Sogar Hunger hatte ich. Während ich mich von den Wellen tragen ließ und in den blauen Himmel über mir starrte, fühlte ich mich auf eine Weise vollständig und richtig, die ich von zu Hause nicht kannte. Ruth spielte irgendwas, mein Vater las, und Magdalena erzählte und erzählte.
    »Ich könnte für immer hierbleiben«, sagte ich an unserem letzten Tag beim Mittagessen, und Magdalena sagte fröhlich zu meinem Vater: »Das liegt wohl doch im Blut, da können wir nichts machen.«
    Es ist schwer, im Nachhinein die paar Sekunden, die nun folgten, exakt zu beschreiben, ohne sie in ein Gefäß zu zwängen. Aber der Essplatz unseres Ferienhauses, sogar die Reste auf unseren Tellern, prägten sich mir so genau in meine Erinnerung ein, dass ich sie noch heute zeichnen könnte.
    Was meinte sie nur damit, etwas läge mir im Blut?
    Ich erinnere mich nicht an ihre Gesichter, ich erinnere mich nicht an Ruth, ob sie dabei war oder schon schlief, sie war ja noch klein und machte Mittagsschlaf, ich erinnere mich nicht an eine Berührung oder ein Wort, das an mich gerichtet wurde. Vielmehr sah ich, wie sich meine Eltern über mich hinweg eine Brücke aus Worten bauten, die auf den Pfeilern »es liegt ihr im Blut« und »können wir nichts machen« ruhte.
    Was sie sagten und wie sie sich ansahen, schloss mich aus, obwohl ich nicht einmal wusste, ob sie sich ansahen. Ich spürte, dass sie es taten, ich spürte, wie sie näher aneinanderrückten, und ich fühlte, wie ich hinausgeschleudert wurde aus etwas, das ich bei allen Schwierigkeiten, die wir miteinander hatten, für sicher oder wenigstens für das Einzige gehalten hatte.
    »Es wäre an der Zeit, ihr die ganze Wahrheit zu sagen«, sagte mein Vater.
    Ich sah zwischen meinen Eltern hin und her.
    Wir gingen zum Strand, Magdalena hielt Ruth fest und war sehr bleich. Johannes hatte seinen dicken Atlas unter den Arm geklemmt.
    Sie stellten sich nebeneinander ans Wasser, meine Mutter achtete nicht einmal darauf, dass ihre Schuhe nicht nass wurden. Sie wies über das Meer.
    »Da drüben kommst du her« sagte sie.
    Ich sah nichts außer blauem Wasser, das am Horizont grau wurde und irgendwo in Himmel

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