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Suna

Suna

Titel: Suna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziefle Pia
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dachte, ich wäre die Einzige und die Erfinderin all dessen.
    Es war stockdunkel, als ich bei Irma und Thea ankam. In der Küche brannte noch Licht, und ich klopfte ans Fenster. Thea machte auf und fiel mir um den Hals. Irma kam aus dem Schlafzimmer, ohne ihre künstliche Brust unter dem Nachthemd, ich musste lachen und konnte nicht mehr aufhören. »Das Kind ist total übermüdet«, sagte sie und machte mir trotzdem noch schnell eine Tasse Kakao.
    Irma sang an meinem Bett »Der Mond ist aufgegangen«, und Thea summte die Altstimme dazu, oder das, was sie dafür hielt.
    »Ich will nach Amerika«, sagte ich, fast schon im Einschlafen, »aber wenn ich bei euch bleiben kann, dann reicht das auch.«
    Es blieb ein unerfüllter Wunsch. Man wollte »dem Kind« nicht noch einen Neuanfang zumuten, nicht noch eine neue Schule, noch eine neue Umgebung, vielleicht war es auch so, dass man sich nicht gänzlich zutraute, mit diesem Kind umzugehen, wenn es »für immer« war. Man sah, wie es sich nicht an Regeln hielt, und war es nicht besser und schöner und einfacher und somit verständlich, lieber den fröhlichen Sommer zu bieten?
    So blieb ich bei deinen Großeltern, denn das sind sie für dich, ich blieb bei Johannes und Magdalena und träumte mich, wenn es gar nicht mehr ging, ans andere Ende der Stadt oder auch nur in ein Buch.
    Ich träumte, dass zu Beginn meines Lebens alles ein Irrtum gewesen war und ich niemals hätte getrennt werden dürfen von meiner eigentlichen Mutter, vielleicht war alles eine Verwechslung, eine Unaufmerksamkeit – aber ich ertrug die Sehnsucht nicht, dass nur ein kleines winziges bisschen davon die Wahrheit sein mochte und es irgendwo eine Mutter gäbe, die um mich weint.
    Als Magdalena anfing, mit mir zu sprechen, war ein Krieg ausgebrochen, oder eingebrochen, aus dem Radio und bei uns in die Familie.
    Man kann sich wundern darüber, dass jener Krieg nach vierzig Jahren noch eine Rolle spielen soll, aber wenn man genau hinschaut bei denen, die Kinder gewesen sind damals, dann sieht man sie sitzen in ihren mühsam abbe­zahlten Häusern, und alle haben sie die Keller voller vergessener Erinnerungen und Gräuel.
    Mancher kann auch nach Feierabend nicht stillsitzen und pflegt seinen Rasen mit der Nagelschere, löscht Feuer, trainiert den Fußballverein und kandidiert für ein kommunalpolitisches Amt.
    Ein andrer findet keine Worte und prügelt bei der erstbesten Gelegenheit sein Kind, weil ihn ein Ton oder ein Wort erinnert hat an etwas, das er nicht anschauen kann.
    Und beim Letzten reicht die Kraft nicht viel weiter als bis auf den Dachboden, wo er Züge fahren lassen kann durch selbstgeschaffene Welten. Weil er nicht aushält, dass unten bei den anderen von überallher Unvorhergesehenes kommt.
    Zum Beispiel aus dem Radio.
    Sie hörten Deutschlandfunk.
    Es war helllichter Tag, und meine Eltern saßen gemeinsam vor dem Radio.
    Dicht zusammen.
    Ihre Körper berührten einander.
    Das Radio blieb an, auch während der Mahlzeiten.
    Wir mussten schweigen und so leise löffeln, dass sogar ich die Wörter Gestapo und Hauptsturmführer gut verstehen konnte.
    Heribert Schwan war nicht zu stoppen.
    Herr Schwan sagte Wörter wie »Völkermord« (ich kannte Völkerball) und »Genozid«. Er sagte Millionen. Er sprach von Kindern in Auschwitz und von Lyon und von Konzentrationslagern (ich kannte Zeltlager und wusste sehr gut, was Konzentration ist, aber nicht, dass man daran sterben konnte).
    »Er war in Frankreich«, sagte meine Mutter tonlos.
    »Wer?«, fragte ich.
    »Mein Vater«, sagte sie. »Mutter hat seine Tischdecken aufgehoben. Nie benutzt.«
    Dann stand sie auf, kreidebleich und schloss sich im Badezimmer ein.
    Mein Vater redete von vor der Tür auf sie ein.
    »Dein Vater doch nicht!«, sagte Johannes in einem Ton, der sogar in meinen Ohren hilflos klang.
    »Du bist fein raus!«, schrie meine Mutter im Bad, das gefliest war und ihre Stimme merkwürdig gläsern klingen ließ. »Deiner war schließlich nur Sanitäter! Du kannst dir sicher sein!«
    Johannes stand mit hängenden Schultern vor der Tür. Ich sah ihn dort stehen, wie er ansetzte zu einer Erwiderung und keine Worte fand. Mich bemerkte, verlegen lächelte und davonhuschte auf leisen Sohlen, in sein Arbeitszimmer, und ich musste bleiben und meine Mutter trösten.
    Das Radio blieb an, als es von Bolivien sprach, und nach einer Weile nur noch von Frankreich. Sogar der Fernseher wurde eingeschaltet, mittags, nachmittags und abends. Bis meine

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